Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
stimmte. Sie mochte die Mutter der Kleinen nicht. Irgendwie hatte diese Frau einen kalten Blick. Sie studierte. Wollte Lehrerin werden. Kam gelegentlich an den Wochenenden und nahm die süße Maus mit. Als die junge Nonne Christine auf den Arm nahm, schrie das Mädchen auf. Sie schrie vor Schmerzen! Die junge Nonne zog das Kind aus. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Dicke schwarze Hämatome auf kleinen Kinderschultern. Sie musste unverzüglich mit der Oberschwester reden. Ihr diese Verletzungen zeigen. Sie müssten dringend etwas unternehmen. Dringend! Außerdem konnte ich bei diesen Foto-Arien nicht mithalten. Ich besaß zwei oder drei Kinderbilder von mir, und Bilder aus meiner Säuglingszeit existierten nicht. Das war unfair. Mich machten diese Vergleiche nur wütend. Und ständig dieses »Als der Junge noch klein war, da habe ich dies, da habe ich das ...«, »Als Felix ein Baby war, da schaute er so und machte er so ...«, »Unser Junge sprach schon im Alter von ... «, »Felix war früh trocken ...«, »Ich habe das einfach soundso ... «. Es war wie verhext: War meine Schwiegermutter unsicher, dann kompensierte sie das mit aufgesetzter Souveränität, und war sie nicht unsicher, dann wusste sie es eben besser. Es war egal, was ich machte. Es war sowieso falsch. Mama und Papa würden mich wieder schlagen .
Blieb ich mit Mia allein zu Hause, dann fiel mir regelmäßig die Decke auf den Kopf. Wann immer es ging, besuchte ich Silke. Ich freute mich, wenn Tomas sein kleines Patenkind zum Lachen brachte, Hubschrauber mit ihr spielte oder den Clown mimte. Er hat eine Gabe, Kinder zum Lachen zu bringen. Felix saß den ganzen Tag im Büro und rief mehrere Male am Tag an. Meistens schrie Mia im Hintergrund, und meistens war ich entnervt. An einem Nachmittag, ich war todmüde, schrie Mia unentwegt. Sie schrie und schrie, und ich wollte nur noch schlafen. Irgendwann verlor ich die Nerven und schrie zurück. Ich schrie mein eigenes Kind an. Einen Säugling wohlgemerkt. Ich war wütend auf einen Säugling.
Tränenüberströmt rannte ich ins Badezimmer und steckte mir zitternd eine Zigarette an. Ich rauchte seit Mias Ankunft nur noch im Badezimmer. Ich war fassungslos und schockiert. Eine Studie, die ich in einer Polizei-Zeitschrift gelesen hatte, besagte, dass über achtzig Prozent aller Eltern, die als Kind geschlagen worden waren, selbst zu Tätern wurden. Wie ein Damokles-Schwert hing diese Zahl über meinem Haupt. Es schürte meine Angst vor dem Versagen. Meine Angst fraß meine Zuversicht auf. »Aus dir wird niemals etwas werden! Niemals! Du bist genauso ein Arschloch wie dein Vater. Ich könnte kotzen, wenn ich deine Visage sehe. Kotzen! Hörst du?« Pffffttttt ... Meine Mutter hatte mir ins Ge sicht gespuckt. Der Speichel hing in meinen Haaren. Hing zäh in meinen Augenbrauen. In meinen Wimpern. Der Speichelgeruch hing in meiner Nase. Tagelang. Wochenlang. Lebenslang. Ich musste mich zusammenreißen. Ich war dreiunddreißig Jahre alt und Polizistin. Ich würde doch wohl noch ein Kind großziehen können. Und ob ich das würde. Mia sollte es nicht so ergehen wie mir. Sollte ich jemals noch mal diese beängstigende Wut verspüren, dann würde ich zu Silke gehen.
Ich beschloss, Silke vorzubereiten und um Hilfe zu bitten. Bevor ich Mia anschrie oder gar schlug, musste ich mich räumlich distanziert haben. Das war der einzige Weg. Ich schmiss die Zigarette in die Toilette und klingelte bei Silke. Heulte mich aus und erzählte von meiner Befürchtung. Silke war wie immer wunderbar.
»Kein Problem. Ich verstehe dich gut. Es wäre überhaupt gut, wenn du Mia mal für zwei Stunden bei mir lässt und zum Beispiel in die Sauna gehst. Sorgen zu machen brauchst du dir bei mir ja wohl nicht. Ich denke mal, dass ich etwas erfahrener und routinierter als deine Schwiegermutter bin. Dann kannst du auch wirklich mal entspannen.«
Ich umarmte Silke. Ihr Vorschlag war grandios, und ich spürte, wie innerlich eine Last von mir abfiel. Ganz so allein war ich nun doch nicht.
Mein Verhältnis zu meiner Schwiegermutter wurde merklich schlechter. Felix fuhr vom Büro aus direkt zu seinen Eltern. Er hatte seine Reitsachen bei seinen Eltern. Er hatte sein Pferd bei seinen Eltern. Er hatte seinen halben Hausstand bei seinen Eltern. Und er verbrachte mehr Zeit bei seinen Eltern als bei seiner Frau und seiner Tochter. Felix zog sich abends in Seelenruhe um. Dann studierte er ausgiebig die Tageszeitung und ließ sich von
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