Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
nicht den leisesten Schimmer. Bestimmt sollte ich den Kontakt abbrechen, was anderes kam gar nicht in Frage. »Du hast gesagt, ich solle den Kontakt zu Greg abbrechen«, probierte ich mein Glück.
»Richtig«, antwortete meine Mutter mit leichtem Erstaunen im Gesicht. »Wir warten auf eine Antwort!«
»Was soll ich sagen?«, begann ich. »Wenn ich ihm weiter schreibe, gibtʼs wieder Theater, und vermutlich schmeißt du seine Briefe dann sowieso weg, noch bevor ich sie lesen kann. Dann kann ich gleich aufhören, ihm zu schreiben.«
»Christine!«, rief Jürgen mit freudiger Stimme. »Das ist ja mal eine Überraschung, dass es jetzt keine langen Diskussionen gibt, sondern du einsiehst, dass wir nur nicht zusehen wollen, wie du in der Gosse landest. Man merkt ja doch, dass du langsam älter wirst.«
Es war vorbei. Jürgen und meine Mutter schienen sich ihrer Sache sicher zu sein und hielten die Überprüfbarkeit meiner Zusage zu diesem idiotischen Verbot für todsicher. Schließlich brauchten sie nur in den Briefkasten zu schauen. Als ich im Bett lag, kreisten meine Gedanken unermüdlich. Es gab keinen Grund, mir wegen einer Brieffreundschaft mit einem Amerikaner die moralische Apokalypse vorauszusagen. Keineswegs, so fand ich, benahm ich mich wie eine aufgeblasene Gans, sondern ich empfand mich eher als völlig verunsichert. Gregs Worte » you are the most beautiful girl Iʼve ever seen « hatten wie Hohn in meinen Ohren geklungen, und in meinem Antwortbrief hatte ich ihn mehrmals gefragt, ob er sich einen schlechten Scherz mit mir erlaube. Erst weitere Beteuerungen in nachfolgenden Briefen hatten mich versöhnlich gestimmt. Warum also, so grübelte ich, empfanden Jürgen und meine Mutter Greg als Gefahr für meine »moralische Wertigkeit«? Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Sie hatten mein Tagebuch gelesen. Sie MUSSTEN mein Tagebuch gelesen haben, denn erst vorgestern hatte ich darin geschrieben, dass ich davon geträumt hatte, mit Greg zu schlafen. Mein Gott, wie peinlich! Ich fuhr aus meinem Bett hoch und kramte mein Tagebuch hervor. Zwar lag es an derselben Stelle wie immer, doch ich hatte den Eindruck, dass ich es genau umgekehrt in die Schublade gelegt hatte.
Als ich dann merkte, dass das Lesezeichen nicht auf der letzten beschriebenen Seite war, sondern das rote Bändchen genau eine Seite zu weit eingelegt worden war, wusste ich, dass ich Recht hatte. Jürgen und meine Mutter hatten tatsächlich mein Tagebuch gelesen.
Mir wurde schlecht. Die Übelkeit war schier unerträglich, und immer wieder presste ich die Lippen aufeinander und bemühte mich darum, tief und regelmäßig einzuatmen. Ich war außer mir vor Wut. Ich hasste sie beide, und im Geiste lag ich auf dem feuchten Teppichboden im Badezimmer unserer alten Wohnung und spürte den harten Griff meiner Mutter auf meinen Oberschenkeln. »Du stinkst«, hörte ich sie sagen, und als ich mein Tagebuch zurück in meine Schublade legte, war das Gefühl der Nacktheit so präsent, dass ich mich nur noch in meine Decke einrollen wollte. Sterben wäre jetzt schön, dachte ich und schlief über diesen Hoffnungsschimmer ein.
In mein Tagebuch schrieb ich am nächsten Tag einen Brief an Greg.
Lieber Greg,
ich fühle mich total beschissen. Ich habe eine richtige Depression. Wenn ich könnte, würde ich mich jetzt glatt umbringen. Wenn mir jetzt jemand Schlaftabletten geben würde, ich würde sie bestimmt nehmen. Ich weiß nur nicht, wo dann Bobby bleiben sollte. Wenn er nicht wäre ... Ich sehe einfach keinen Sinn mehr darin, noch weiterzuleben. Nur um mich dauernd von allen Seiten anscheißen zu lassen? Nein! Hätte ich das vor meiner Geburt gewusst, ich hätte mich gehütet, ein Leben überhaupt erst anzufangen! Ich weiß nicht, was ich machen soll.
Deine Christine
In der Schule erzählte ich meinen Freundinnen von dem gestrigen Abend. Sie schimpften und wetterten, und Gitta hatte die rettende Idee. »Du packst dein Tagebuch gleich morgen früh ein und bringst es mit in die Schule. Du kannst ja im Reli-Unterricht oder in Geschichte da reinschreiben, und einer von uns nimmt es dann mit nach Hause. Wir bringen dir dein Tagebuch jeden Morgen wieder mit, und verlass dich drauf, DANN wird es bestimmt von niemandem gelesen. Versprochen!«
Meine Freundinnen taten mir so gut. Ich liebte sie wie Schwestern und wusste, dass auf alle Verlass war. Ich schüttete mein Herz aus wegen der Sache mit Peter und erklärte, dass ich panische Angst hätte, dass
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