Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
ich die Geschwindigkeit, und ich fand, dass sie selbst schuld war, wenn sie ständig an allem und jedem herummäkelte und Jürgen es daher wohl lustiger fand, mit mir loszudüsen.
»Das müssen wir bald wieder machen und großes Ehrenwort, ich sag nix, okay?«, sagte ich zu Jürgen, bevor wir ausstiegen. »Logisch«, antwortete er und grinste zufrieden. »Das bleibt unser Geheimnis. Im Übrigen: Tut mir leid mit deinem Tagebuch! Die Mami hat es gefunden und gelesen, und ich habe ihr strikt verboten, so etwas noch einmal zu machen. Sei ganz beruhigt. Ich werde dafür sorgen, dass das nie wieder passiert, verstanden?«
Ich hatte verstanden. Der Feind war gar nicht Jürgen. Er war nie mein Feind gewesen. Meiner Mutter schien jedes Mittel recht zu sein, und wenn mich überhaupt irgendjemand vor dieser Frau beschützen konnte, dann nur Jürgen. »Ich habʼs geahnt, dass sie in meinen Sachen herumgewühlt hat. Aber danke, dass du es mir gesagt hast. Du bist wenigstens ehrlich zu mir!«
In den Sommerferien arbeitete ich viel bei Jürgen in der Firma. Von seinem Betriebsleiter bekam ich während dieser Wochen mit, dass dieser zwei Söhne hatte, von denen der jüngere der augenscheinlich beliebtere war. Erwin schwärmte in höchsten Tönen von ihm und erzählte immer wieder, dass der »Kleine« so toll Orgel spielen könne. Für seinen ältesten Sohn Michael hingegen hatte er nicht viel übrig.
Michael besuchte seinen Vater eines Tages in der Firma, und ich sah einen mageren, blassen Jungen mit Pickeln, der in meinem Alter sein musste. Ständig schaute Michael auf den Boden, und als er mir die Hand zum Gruß reichte, stellte ich fest, dass die Haut auf der Handinnenseite hart und krustig war. Roter Schorf zog sich über den Handrücken und kroch unter die Ärmel seines langärmeligen T-Shirts. Wann immer sich die Gelegenheit bot, murmelte Michael etwas von »... muss mal eben Hände waschen ...« und verschwand in der Herrentoilette. Erst Jahre später, als ich einen Bericht über Waschzwänge gelesen hatte, wusste ich dieses Verhalten von Erwins Sohn richtig einzuschätzen. Der arme Junge muss unter einer heftigen Neurodermitis und unter einem Waschzwang gelitten haben, und ich frage mich bis heute, was Michael sich von der Seele waschen wollte ...
Jürgen war nicht gut auf Erwin zu sprechen. Er machte sich oft lustig über ihn und bestätigte mich in meinem Gefühl, dass der Kerl irgendwie ekelig war. Wenn Erwin die Firma verlassen hatte, saß Jürgen oft neben mir an der Wickelmaschine und lästerte mit mir über ihn. Er erzählte mir, dass Erwin wirklich pervers sei und seine Maria mit allen möglichen Sexspielchen drangsalieren würde. Erwin würde ein ganzes Arsenal an Sexspielzeug besitzen und Maria zwingen, es in alle möglichen Körperöffnungen zu schieben, und sei es noch so groß.
Ich schüttelte mich vor Unbehagen und war froh, dass Jürgen dieselbe Meinung von Erwin hatte wie ich. Jürgen war eben normal und Erwin nicht.
Ich genoss die Stunden in der Firma in vollen Zügen. Obwohl draußen herrlichster Sonnenschein war und meine Freundinnen entweder im Urlaub waren oder sich im Freibad räkelten, bereute ich es keine Sekunde lang, meine Sommerferien in den kalten Gemäuern der Fabrik inmitten von Wickelmaschinen zu verbringen. Um meiner Mutter und ihren nicht enden wollenden Erledigungsbefehlen zu entgehen, arbeitete ich bereits ab Mittag. So brauchte ich lediglich für das Frühstück und das Mittagessen zu sorgen und hatte den restlichen Tag über meine Ruhe vor ihr. Jürgen schien meine Strategie erahnt zu haben, denn er diskutierte immer wieder mit meiner Mutter, wie wichtig bestimmte Aufträge und somit meine Arbeit seien und dass diese Tätigkeit doch viel besser sei, als wenn ich unkontrolliert in der Stadt mit meinen Freundinnen umherziehen würde. Sie schluckte es ohne Widerworte, und die gemeinsamen Abstecher nach Hagen in die Eisdiele blieben weiterhin ein gut gehütetes Geheimnis zwischen Jürgen und mir.
Eines Abends überraschte uns Jürgen mit einer aufregenden Neuigkeit: Er hatte ein großes Haus gekauft und schwärmte von der Einrichtung und dem großen Garten. Wir müssten uns unbedingt dieses Haus anschauen, denn dort sei nun endlich Platz für uns alle. An diesem Abend schwebte ich mal wieder auf Wolke sieben. Zwar war die Aussicht, mit Ulf und Martin eine große Familie zu bilden, nicht gerade prickelnd, und eigentlich reichten mir die gemeinsamen Wochenenden voll und ganz,
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