Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
klar. Christine frisst und kotzt, Christine spannt frühreif, wie sie ist, den zweiundvierzig Jahre alten Freund der zweiunddreißig Jahre alten Mutter aus, Christine war schon immer verhaltensgestört, also müsste Christine vermutlich in die geschlossene Abteilung einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und niemand, wirklich niemand, würde bei einer pädagogisch geschulten Grundschullehrerin und bei einem honorigen Geschäftsmann auch nur im Geringsten daran zweifeln, dass es NUR SO und nicht anders sein konnte.
Variante zwei war eigentlich dasselbe Spielchen wie Variante eins. Meine Mutter würde mir nicht glauben, Jürgen alles abstreiten und entrüstet rufen: »Aber Christine! JETZT bin ich aber wirklich enttäuscht von dir! Warum erzählst du denn so einen Unfug? Wo ich immer zu dir gehalten habe? Aber ich wusste es ja schon immer ...« Und das Ergebnis wäre inklusive der Begründung für mein abstruses Verhalten exakt dasselbe wie in der Geschichte der Variation eins.
Ich schloss meine Überlegungen, ob ich mich meiner Mutter anvertrauen sollte, mit der festen Annahme ab, dass mir keinesfalls geglaubt werden würde, was realistisch und typisch für meine Mutter war. Wenn ich mein achtzehntes Lebensjahr würde erleben wollen, dann durfte auf gar keinen Fall ein Sterbenswörtchen an die Ohren meiner Mutter dringen. Oma schied damit als Gesprächspartnerin und Mitwisserin aus, und abgesehen davon erachtete ich meine Großmutter als völlig überfordert und eher herzinfarktgefährdet angesichts der Tatsache, dass sie mir in jedem Fall meine abenteuerlichen Erzählungen von dem feinen Jürgen glauben würde.
Und wieder einmal hatte auch Jürgen mit seinen mahnenden Worten Recht: »Wenn die Mami das von uns erfährt, dann ist hier für dich die Hölle los.« Für mich wohlgemerkt ...
Im Sommer 1980 war ich in der neunten Klasse und liebäugelte damit, nach Beendigung der zehnten Klasse im darauf folgenden Jahr das Gymnasium mit Realschulabschluss zu verlassen. Ich wollte Fremdsprachenkorrespondentin werden und hatte herausgefunden, dass es in Hamburg eine Privatschule gab, an der man nach dreijähriger Ausbildung die staatlich anerkannte Prüfung unter Aufsicht der örtlichen Handelskammer ablegen konnte.
Eines Tages, wir saßen gerade auf der Terrasse, und Jürgen ergoss sich in huldvollen Lobeshymnen über meine Früchtekaltschale, fragte er urplötzlich, was ich denn beruflich machen wolle. Freimütig erzählte ich von meiner Idee, möglichst frühzeitig ins Berufsleben einsteigen und niemandem auf der Tasche liegen zu wollen, bis ich bemerkte, dass Jürgens Miene zeigte, dass ich mal wieder die falsche Antwort gegeben hatte.
Umständlich wischte sich Jürgen Mund und Schnauzer mit der Serviette ab, schaute mich lange und prüfend an und holte tief Luft. »Du hast doch hier zu Hause alle Voraussetzungen, die man braucht, um in Ruhe das Abitur zu machen, oder passt dir hier irgendetwas nicht?« Jürgen schaute mir in die Augen, und ich war zutiefst beunruhigt.
Alles in mir war auf der Hut, und ich geriet in völlige Anspannung. Sein Gesicht hatte denselben bedrohlichen Ausdruck wie bei den Themen Greg oder den anderen Jungs.
»Alles prima«, antwortete ich und wartete ab. Bloß keinen Fehler machen, schoss es mir durch den Kopf.
»Wenn ich damals so ein schönes Zuhause gehabt hätte, wäre das Abitur für mich keine Frage gewesen«, konstatierte Jürgen. »Wir hingegen mussten unsere Heimat Breslau wegen der Russen verlassen. Wir hatten alles verloren, und Muddel war mit uns drei Kindern auf sich alleine gestellt. Wenn ich ihr damals nicht so geholfen hätte, dann hätten wir damals in Werl als Flüchtlinge nie Fuß fassen können!«
In mir krampfte sich alles zusammen. Diese Art der Selbstbeweihräucherung kannte ich zur Genüge. Ich wusste, was jetzt kam. Er, der tolle, pfiffige und einfallsreiche Jürgen, hatte die ganze Familie gerettet und aus dem Nichts die Firma aufgebaut. Seinen schizophrenen Bruder Norbert, der, so hatte ich Irmhild mal wütend reden gehört, offensichtlich der technisch überlegenere der beiden Brüder war und als der kreative Kopf der Firma galt, erwähnte Jürgen in seinen geschwungenen Reden nie.
»Wenn ich also«, fuhr Jürgen fort und riss mich aus fernen Gedanken zurück in die Realität, »an deiner Stelle wäre, würde ich angesichts aller Vorzüge selbstverständlich das Abitur machen. Alles andere ist nur ein Zeichen von Undankbarkeit und überdies großer Dummheit.
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