Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
ich meiner natürlichen spontanen Sexualität vollkommen beraubt worden war. Ich konnte es lediglich empfinden, und dieses Gefühl war ein Gefühl des Benutztwerdens, das Gefühl, dass sich in Wahrheit niemand im meinem Umfeld für MEINE Bedürfnisse interessierte. Wenn ich in der Firma arbeitete, überschüttete mich Jürgen mit Komplimenten und Nettigkeiten. Immer wieder betonte er, dass es ein schrecklicher Gedanke für ihn gewesen wäre, »wenn irgend so ein dummer Bengel einfach über mich rübergerutscht wäre«. Wenn ich meinen Freundinnen zuhörte, dann ergriff mich die schier unendliche Sehnsucht, einen netten Jungen als festen Freund an meiner Seite zu haben. Carla hatte sich in Andreas verliebt, einen meiner großen Jugendschwärme. Andreas hatte sich auch für mich interessiert, aber bei den wichtigsten Partys, die in meiner Klasse gefeiert wurden, war ich nicht dabei, weil mir meine Mutter ständig einen Strich durch die Rechnung machte. Wenn es dann zu Hause wieder Zoff gab, dann konnte nur Jürgen wieder für Ruhe sorgen, und teilweise handelte er Kompromisse aus, die mich aber nicht wirklich nach vorn brachten. Ich erhielt zum Beispiel die Erlaubnis, auf eine Feier im Vereinsheim des Freibades zu gehen, die um achtzehn Uhr begann. Bis ich alle Aufträge meiner Mutter erledigt hatte, war es dann schon fast neunzehn Uhr, und ich spürte, dass es ihr Freude bereitete, mein langes Gesicht zu betrachten, wenn sie, kurz bevor ich das Haus verließ, noch »schnell« eine Erledigung von mir erwartete. Hätte ich rebelliert, wäre das Ergebnis ihr Verbot gewesen, zu der Party zu gehen. Da ich andererseits aber schon um zwanzig Uhr wieder zu Hause sein musste, war ich nur eine halbe Stunde auf der Fete im Vereinsheim. Und so lief es eigentlich immer. Die Unternehmungen meiner Freundinnen am Wochenende waren für mich ohnehin gestorben. Ich war mit Ulf und Martin auf dem Panzerübungsgelände, und somit war mir die Chance, einen netten Jungen kennen zu lernen, fast gänzlich verbaut.
Wenn meine Mutter abends zu Jürgen ins Haus fuhr, dann schnappte ich mir alles Mögliche aus dem Vorratsschrank, bereitete mir zehn, fünfzehn Pfannkuchen zu und stopfte diese mit Apfelmus, Nutella oder Käse und Schinken so lange in mich hinein, bis ich das Gefühl hatte, zu platzen. Ich hörte erst auf zu essen, wenn nichts mehr in mich hineinging und wenn ich vor lauter Völlegefühl ob der schweren Kost meine Übelkeit nicht mehr unterdrücken konnte. Dann stürzte ich zur Toilette und erbrach mich, dass es mich schüttelte und der kalte Schweiß auf meiner Stirn den drohenden Kreislaufkollaps ankündigte. Jedes Mal, wenn sich der gigantische Speisebrei zurück durch die Speiseröhre wälzte und in der Toilettenschüssel landete, hatte ich das Gefühl, mich von dieser Last, dieser Schwere in mir und in meinem Bauch befreien zu können. Ich allein bestimmte darüber, was in meinem Körper bleiben durfte und was nicht. Wenn ich aber danach leer und ausgepumpt, keuchend und schwitzend vor der Toilette stand, dann zog es mich wieder hinab in die dunklen, kalten und leeren Höhlen der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Jedes Mal schrubbte ich die Toilette, um bloß keine verräterischen Spuren zu hinterlassen, wusch mir die Hände und putzte mir die Zähne, bis alles so sauber war, als ob niemals etwas derartig Widerliches passiert sei.
Ganz besonders erniedrigend war es für mich, wenn mich die bulimischen Attacken in der Stadt überfielen. Zwischen den Besorgungen für meine Mutter stopfte ich mich dann wie hypnotisiert mit Pizza und Eis voll und fraß mich systematisch bis Karstadt durch, um dort dann die öffentlichen Toiletten aufzusuchen. Ich hatte die »Kunst, geräuschlos zu erbrechen« inzwischen perfektioniert, und der abartige Geruch in den zumeist verdreckten, engen und stickigen Kabinen machte es mir leicht, mich schnellstens wieder zu entleeren. Wie verzweifelt muss man sein, wenn man seinen Kopf über eine öffentliche, mit Fäkalien vollgespritzte Toilettenschüssel hängt und dabei nicht vom Alkohol benebelt, sondern glasklar im Kopf ist?
Ich habe damals ernsthaft geglaubt, dass ich das einzige Mädchen auf der ganzen Welt war, das eine derart ekelige »Angewohnheit« hatte. Eine Mitschülerin hatte Magersucht, was 1980 zwar schon als Krankheit bekannt war, jedoch in der Öffentlichkeit noch als Tabuthema behandelt wurde. Meine Fress- und Brechattacken sah man mir lange Zeit nicht an, da ich weder magerer wurde
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