Ein falscher Traum von Liebe: Der lange Weg aus der Hölle meiner Kindheit (German Edition)
noch sonst irgendwelche Auffälligkeiten zeigte. Mit sechzehn, nach zwei Jahren der Bulimie, waren meine Mundwinkel beidseitig aufgerissen und verkrustet, die Gesichtshaut blass und pickelig, und die natürliche Verdauung hatte gelitten. Oft hatte ich eine ganze Woche lang keinen Stuhlgang, und ich half mir mit Abführtees, Neda-Früchtewürfeln und Entwässerungstees. Da mich meine immer schlimmer werdende Bulimie in den Wahnsinn trieb, schrieb ich mein Tagebuch voll und versuchte, durch peinlich genaues Notieren der konsumierten Nahrungsmittel mit Angabe der jeweiligen Kalorienanzahl mein Essverhalten wieder unter Kontrolle zu bringen. Es half nichts, und meine Verzweiflung wuchs und wuchs. Ich verabscheute mich selber und empfand mich als totale Versagerin, weil ich ständig rückfällig wurde und es Tage gab, an denen ich erst nach sechs bis acht Attacken ausgelaugt und ausgepumpt zur Ruhe kam. Es war ein Teufelskreis, aus dem ich genauso wenig herauskam wie aus dem Teufelskreis mit Jürgen. Ich wusste mit vierzehn Jahren nicht, dass beide Teufelskreise, von der richtigen Seite aus betrachtet, eine Krankheit sind ...
Monatelang schluckte ich jeden Tag ein bis zwei Appetitzügler, und mit siebzehn brach mein Körper zusammen. Während eines Eishockeyspiels war ich urplötzlich auf der Besuchertribüne in mich zusammengesackt und mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus verbracht worden. Die Ärzte untersuchten mich und entschieden dann, die Nieren zu röntgen. Hierzu spritzten sie intravenös ein Kontrastmittel, das mich fast in den Himmel gebracht hätte. Ich schwebte durchs Nichts und betrachtete mich auf einmal aus der Vogelperspektive. Fast hatte ich den Eindruck, mich in einer Ecke unter der Zimmerdecke zu befinden, und von dort schaute ich auf das Treiben unter mir. Als es richtig spannend wurde, weil weitere Ärzte völlig hektisch in den Untersuchungsraum gerannt kamen, mir weitere Spritzen verabreichten und auf meinem Brustkorb herumdrückten, war ich genauso plötzlich wieder in meinem Körper, wie ich zuvor unter die Decke geraten war. Im Gespräch mit einem Arzt wurde ich dann darüber aufgeklärt, dass ich eine Kontrastmittelallergie hätte und zeitlebens daran denken müsse, diese Allergie in der Anamnese zu erwähnen.
»Und was war das für ein Theater im Untersuchungsraum?«, fragte ich den Arzt.
Der starrte mich nur an und schwenkte dann über auf die Untersuchungsergebnisse, die als Ursache meines Zusammenbruchs eigentlich gar nichts ergeben hatten. Ich hütete das Geheimnis meiner Bulimie, weil ich mich viel zu sehr schämte und befürchtete, dass meine Mutter dann mit ihrer Theorie, dass ich verhaltensgestört sei, von den Ärzten Unterstützung erhalten hätte.
Tief im Inneren fehlte mir meine Mutter. Häufig träumte ich davon, mich einfach in ihre Arme zu werfen und losheulen zu dürfen. Ich wollte ihr erzählen, wie gern ich sie lieben wollte, dass ich sie brauchte, dass ich Probleme hatte, mit denen ich alleine nicht fertig werden konnte, und dass ich beschützt werden wollte. Wenn sie dann ihre Lobeshymnen auf Jürgen herausposaunte und in seinem Beisein erzählte, dass sie ihren Lehrerkolleginnen heute mal wieder erzählt hatte, dass ihr dieses oder jenes mit ihrem Lebensgefährten niemals passieren könnte, weil »den Jürgen, den könnte man auch in einen Waggon voller Frauen sperren, der würde nur an seine Gundis denken«, dann wusste ich, dass meine Träume immer Träume bleiben würden. Wenn ich mir vorstellte, dass ich meiner Mutter erzählen würde, dass Jürgen mindestens einmal pro Woche ihre Tochter beschlief, dann entwickelte sich die Geschichte in zwei Variationen in meinem Kopf weiter:
Entweder sie glaubte mir, dann wäre natürlich ich wieder einmal schuld gewesen. Vermutlich hätte ich den armen Jürgen gleich einer Lolita verführt, und die Gründe wären offensichtlich: Eifersucht. Natürlich. Ich hätte bestimmt ganz gezielt Jürgen »scharf gemacht«, weil ich diesen fantastischen Mann meiner Mutter nicht gönnte und ohnehin nur darauf aus war, alles kaputtzumachen. Das Ende vom Lied wäre vermutlich gewesen, dass auch Jürgen seine gänzliche Ohnmacht propagiert hätte und meiner Mutter mit seinen rhetorischen Fähigkeiten plausibel erklären würde, was für ein Früchtchen ich doch sei, wenn ich es sogar hinbekommen hätte, ihn, den standhaften und moralischen Jürgen, um meine vorpubertären Fingerchen zu wickeln. Und wie würden beide das Problem lösen? Auch
Weitere Kostenlose Bücher