Ein Frauenheld entdeckt die Liebe
Erbsen und Brot“, stellte Serena fest. „Warum sollte man das nicht essen können?“
„Aber ich werde …“, begann die Schneiderin erneut zu jammern.
Diesmal unterbrach Serena sie. „Niemand zwingt Sie zu essen, Madame. Doch ich möchte Sie bitten, sich zu setzen, da ich etwas mit Ihnen zu besprechen habe.“ Sie füllte zwei Teller und stellte einen vor die Französin hin. Es würde nicht leicht sein, diese davon zu überzeugen, dass der Aufenthalt in High Knightswood verlängert werden musste.
Wie sich herausstellte, konnte Serena ihr Anliegen ungestört vorbringen, denn Madame LeClerc hatte sich entschlossen, ihre Portion bis auf den letzten Bissen zu vertilgen. Ihr Gesicht drückte zwar tiefste Verachtung und Abneigung aus, doch das hinderte sie nicht daran, auch noch den kleinsten Knochen säuberlich abzunagen. Dann allerdings setzte sie zu einer bitteren Klage an.
Serena, die unterwegs überlegt hatte, ob sie die Schneiderin bitten sollte, sie am nächsten Tag nach Knightswood Hall zu begleiten, entschied, dass keine Notwendigkeit bestand, eine Anstandsdame mitzunehmen. Vermutlich würde Mr. Lytton die Nörglerin sowieso gleich hinauswerfen oder sie zumindest in den Dienstbotentrakt schicken. Und zu welchen Auseinandersetzungen es dort, insbesondere in der Küche, kommen mochte, wollte Serena sich gar nicht erst ausmalen.
Erschöpft von all den neuen Eindrücken begab sie sich früh zu Bett. Doch da von nebenan Madame LeClercs rhythmisches Schnarchen zu vernehmen war, konnte sie lange nicht einschlafen. Sie lag mit geschlossenen Augen da und rief sich die Ereignisse des Tages noch einmal in Erinnerung. Wie spannend und erregend es gewesen war, den Männern beim Boxen zuzuschauen! Und dann hatte der Sieger einen Kuss von ihr gefordert. Sein Mund war warm und weich gewesen und seine männliche Ausstrahlung nahezu unwiderstehlich! Bei dem Gedanken daran begann ihr Herz schneller zu schlagen, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Dann fiel ihr ein, wie naiv sie gewesen war, und das Lächeln erlosch. Sie hatte geglaubt, gut auf das Treffen mit Nick Lytton vorbereitet zu sein, dabei aber nicht einmal in Erwägung gezogen, dass der Freund ihres Vaters gestorben sein könnte. Ob es richtig gewesen war, das Hilfsangebot seines Sohnes anzunehmen? Er war ein gefährlicher Mann, so viel stand fest. Und er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie nicht für eine achtbare Frau hielt. Jedem anderen hätte sie das übel genommen. Ihn jedoch fand sie trotzdem ungeheuer anziehend.
Ja, er faszinierte sie. Er strahlte eine Abenteuerlust, eine Unberechenbarkeit aus, die ihn ungeheuer attraktiv machte. Wie merkwürdig! Eigentlich hätte jede vernünftige Frau sich vor ihm zurückziehen müssen. Aber offenbar war das Gegenteil der Fall. Sein perfekter Körper war dabei gar nicht so wichtig. Es gab viele athletisch gebaute, gut aussehende Männer.
Seine Ausstrahlung war es, die ihn zu etwas Besonderem machte.
Unwillkürlich seufzte Serena auf. Obwohl sie unter so ungewöhnlichen Umständen aufgewachsen war, war ihr Ruf makellos. Nun allerdings musste sie auf der Hut sein, wenn sie sich nicht selbst schaden wollte. Sie wusste, dass sie Gefahr lief, unter Nicholas Lyttons Einfluss einen Fehler zu begehen.
Sollte sie Madame LeClerc doch bitten, sie als Anstandsdame nach Knightswood Hall zu begleiten?
Ein besonders lauter Schnarcher war die Antwort auf diese Frage.
Ich würde es nicht ertragen, sie ständig um mich zu haben, dachte Serena.
Allerdings würde selbst Lytton es nicht wagen, in Abwesenheit einer Anstandsdame irgendwelche Grenzen zu überschreiten. Aber wäre es wirklich so schlimm, wenn sie nicht alle Regeln der Schicklichkeit bis zum Letzten befolgte? London war weit fort. Und vermutlich würde nie jemand erfahren, dass sie sich in Knightswood Hall aufgehalten hatte.
Als Serena schließlich einschlief, saß Nicholas Lytton, noch immer hellwach, in seinem Studierzimmer. Seine Gedanken drehten sich um das Testament seines Vaters. Vor ihm lag ein Stapel Papiere. In der Hand hielt er ein Schreiben seines Anwalts Frances Eldon, der in Bezug auf die Erbschaft nicht sehr zuversichtlich zu sein schien.
Gerade stellte der Butler eine Karaffe mit Portwein und eine Dose mit Schnupftabak auf den Tisch. Er kümmerte sich um das Feuer, schloss die Vorhänge und zog sich schließlich mit einem „Gute Nacht, Mr. Lytton“ zurück.
„Gute Nacht, Hughes. Bitte, sagen Sie meinem Kammerdiener, dass
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