Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
den hilflosen Juden, der vor ihm lag. Es gab keinen Ausweg, weder für ihn noch für den Kerl am Boden. Sie hatten beide gewusst, worauf sie sich einließen. Krauss trat zu, erst zögerlicher, dann heftiger. Sein Opfer schrie, würgte aber bald nur noch. Edgar feuerte seinen Bruder an. Irgendwo ging ein Fenster auf, jemand rief nach der Polizei. Edgar zog Krauss weg. Sie rannten die Straße runter, so schnell sie konnten, Edgar lachte und schlug ihm im Laufen auf die Schulter. Krauss sah seinen Bruder nicht an, starrte nur auf den Weg; in seinen Augen brannten trockene Tränen.
Kämpfen. Immerzu. Stärke zeigen, die Schwachen ausrotten. Das Gesetz der Auslese umsetzen. Krauss schluckte. Er träumte nicht mehr. Das hier war die Wahrheit, seine unselige Vergangenheit. Seine Bürde. Diese Schuld abzutragen war seine Aufgabe. Weil er irgendwann begriffen und etwas gefunden hatte, wofür sich das Kämpfen lohnte. Krauss sah die unbekannte Frau an, die ihn an Hanna erinnerte. Hanna, seine einzige Liebe. Er dachte an ihre Augen, ihr Lächeln, ihren Gang. Ihr offenes, selbstbewusstes Wesen. Ihre Fähigkeit, das Gute aus den Menschen herauszuholen. Ihre Entschlossenheit, ihre Stärke. Sie war jeden Kampf wert gewesen. Für sie hatte er sich in die Schlacht geworfen, für sie und das Kind. Hitlers heimlichen Sohn. Gezeugt mit einer Frau, die in den Augen des Führers nur eine Brutmaschine war. Sie hatte nur diesen einen Zweck zu erfüllen, danach hörte und sah niemand mehr etwas von ihr. Hanna sollte stattdessen das Baby pflegen, Krauss es beschützen. Aber Hanna ertrug den Gedanken nicht, dass Hitler seinem Jungen die Kindheit stehlen, dass er ihnvorbereiten wollte auf größere Aufgaben. So waren sie beide mit dem Kind geflohen, um es vor einer schrecklichen Zukunft zu bewahren. Sie hatten gewusst, dass es schwer werden würde. Er dachte an das Dorf in Frankreich, in dem sie Unterschlupf fanden. Ein Bauer nahm sie auf, gab ihnen ein Zimmer auf seinem Hof. Es war ein altes Landgut, mit einem Innenhof, um den sich die Gebäude gruppierten, und einem stählernen Tor, das am Abend geschlossen wurde. Hanna und Krauss fühlten sich gut aufgehoben dort. Bis ein Kollaborateur aus dem Dorf sie verriet.
Es war nach Mitternacht, als Edgars Männer anrückten. Sie rüttelten am Tor, verlangten barsch Einlass. Der Bauer hasste die Nazis. Er warnte die junge Familie. Krauss hatte für den Fall vorgesorgt. Außerhalb des Grundstücks, etwa zweihundert Meter hinter dem Haus, stand ein Schuppen. Darin hatte Krauss mit Genehmigung des Bauern einen Lieferwagen geparkt. Ihr Zimmer im Erdgeschoss lag günstig zum Schuppen und dem Tor gegenüber an der Rückseite des Landguts. Eilig rafften sie ihre Sachen zusammen. Krauss stieg zuerst aus dem Fenster, seine Maschinenpistole umgehängt. Es war stockdunkel, aber er erkannte rund zwanzig Meter entfernt gegen den sternenklaren Himmel die Umrisse eines Mannes. Krauss schoss ohne Vorwarnung. Er hörte einen Schrei und einen dumpfen Aufprall. Hanna reichte ihm das Kind aus dem Fenster und kletterte selbst hinterher. »Lauf!«, sagte er. »Ich halte sie auf.«
Hanna rannte ohne ein weiteres Wort auf den Schuppen zu, das Kind im Arm. Sie kannte den Weg, hatte ihn sich eingeprägt. Krauss erinnerte sich daran, wie die Dunkelheit sie sofort verschluckte und wie er dachte, dass er sie nie wiedersehen würde. Die nächsten Minuten verschwammen in seinem Gedächtnis zu einem Stakkato aus Bildern. Er war gebückt zu der Ecke des Hauses gehuscht, an der die Straße vorbeiführte,das wusste er noch. Weil er sie von dort erwartete. Dann ging alles sehr schnell. Heisere Rufe, metallisches Klappern. Grellgelbes Mündungsfeuer, das die Nacht kurz erhellte wie ein Blitzschlag. Umrisse von Körpern, die durchs Dunkel hasteten. Das trockene Knattern der Maschinenpistolen. Der eigene Atem, schnell, abgehackt, das Herz, das in der Brust trommelte, als wolle es die Rippen sprengen. Schreie. Kugeln, die in einen Baumstamm klatschten. Gebrüll. Mündungsfeuer. Flüche. Er war hinter dem Schuppen, hörte den Motor. Hanna fuhr aus dem Versteck, der Wagen rutschte auf den Feldweg, Krauss lief auf die Straße, folgte dem Wagen, so schnell er konnte. Die beiden Hecktüren schwangen offen hin und her. Hinter ihm Schüsse. Keine Zeit mehr, um zurückzufeuern. Er rannte, bekam eine Tür zu fassen, zog sich hoch, spürte einen Schlag im Rücken, der ihn ins Innere des Wagens schleuderte. Eine Kugel hatte ihn getroffen, nah an
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