Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
paar Monaten der Mann an der Spitze abhandengekommen ist. Das wäre eine Möglichkeit.«
»Hört sich nicht schlecht an. Um was für eine Abteilung handelt es sich?«
»Sie nennen sich die ›Söhne Odins‹. Ein wilder Haufen. Die Truppe kommt zum Zug, wenn es besonders heikel wird. Oder besonders geheim. Oder besonders schmutzig. Genau das Richtige für Sie.«
Für einen Wahnsinnigen wie Sie, hätte Göring am liebsten gesagt. Einen Erpresser. Aber in der Tat ersetzte er damit einen Wahnsinnigen durch einen anderen. Krauss würde diese Parallelität zu schätzen wissen. War es nicht so, dass sein Bruder Edgar Krauss’ Geliebte auf dem Gewissen hatte? Und jetzt war Göring drauf und dran, den Mörder seiner Mitstreiterin Oda in die Position seines toten Bruders zu hieven. Wenn Heydrich und Himmler mitspielten. Er musste ihnen die Personalie irgendwie verkaufen. Oder auch nicht. Wer wollte sich schon gegen den Reichsfeldmarschall stellen?
»Wann können Sie mich dort einführen?«
»In Kürze«, sagte Göring. »Wir müssen sowieso nach Berlin.«
»Ich würde es mir ansehen«, antwortete Hansen.
Wie gnädig, dachte Göring.
»Also nun mal raus mit der Sprache.«
Hansen ruckelte auf seinem Stuhl herum.
»Bei allem Respekt: Sie verstehen, dass ich mich absichern möchte. Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen den Jungen persönlich herschaffe, wenn Sie sich an Ihren Teil der Abmachung halten. Er befindet sich ohnehin außerhalb Ihrer Reichweite. Oda hat ihn einer Familie anvertraut, die ihn nach Übersee gebracht hat. Nach Südamerika. Ich habe den Ort und den Namen der Familie. Ich behalte ihn für mich, als Rückversicherung. Sobald ich mich in Berlin etabliert habe, hole ich den Jungen zurück nach Deutschland, das garantiere ich Ihnen.«
Görings Enttäuschung war mit jedem Wort Hansens weiter gewachsen. Nicht nur, dass dieser Schuft ihn gnadenlos weiter erpresste. Wenn das zutraf, was Hansen sagte, würde es Wochen, wahrscheinlich Monate dauern, bis Göring das Kind in seiner Gewalt hatte. Dabei brauchte er es jetzt, um Hitler milde zu stimmen.
»Wie lange wird das dauern?«
»Realistisch: mindestens drei Monate, schätze ich.«
Göring sank mit dem tiefsten Seufzer der letzten Stunden zurück in seinen Stuhl. Mein Gott, dieser Tag war nicht zu retten. Er betrachtete Hansen aus halb geschlossenen Augen.
»Gut. Holen Sie ihn. Besser spät als nie.«
Eine Stunde später saß Göring im Esszimmer am Kopfende eines Tisches, der mindestens zwanzig Menschen Platz bot, und stärkte sich mit einer Mahlzeit für die Rückfahrt. Außerdem baute er beim Essen Frust ab. Emmy trat in den Raum und setzte sich neben ihren Gatten.
»Ich habe mit Dr. Heermann telefoniert«, berichtete sie.
Göring sprach mit vollem Mund, vollkommen desinteressiert.
»Und was sagt er?«
»Also. Der Kurier hat den Absturz überlebt. Die Maschine ist auf einem Feld gelandet. Dort wollte er die Dokumente verbrennen. Aber sein einziges Streichholz hat der Wind ausgeblasen. Er hat einen Bauern, der zufällig vorbeikam, gebeten, ihm ein Zündholz zu geben. Aber der hatte auch keines. Da tauchte die Polizei auf, hat die Papiere beschlagnahmt und den Kurier mitgenommen aufs Revier. Jetzt pass auf, Hermann. Dr. Heermann sagt, dass der Kurier die Dokumente auf der Wache den Polizisten entrissen und in einen Ofen geschmissen hat. Bis die Männer die Seiten wieder herausgefischt hatten, waren sie nur noch schwer leserlich. Leider kann er nicht genau sagen, welche Stellen verbrannt sind.«
Göring drehte sich zu ihr um.
»Das wundert mich jetzt aber«, sagte er. »Wo er doch so schlau ist, dein Dr. Heermann.«
»Bitte, Hermann. Woher soll er denn diese Details wissen? Ich glaube ihm, er ist ein guter Mensch.«
»Mit einer blühenden Phantasie.«
Emmy schmollte. Göring kaute lustlos auf einem gebratenen Hühnerbein herum. Zum Teufel, dachte er. Wahrscheinlich spintisierte diese Kanaille nur dummes Zeug zusammen. Aber so hatte er für Hitler wenigstens eine mögliche Variante parat, wie es in Mechelen abgelaufen sein könnte. Der Führer war, das wusste er aus eigener Erfahrung, nicht unanfällig für derartigen Aberglauben. Göring entfuhr ein kleiner Rülpser.
»Danke für deine Mühe, Emmy«, sagte er zu seiner Gattin. Aber der Stuhl neben ihm war leer. Emmy war lautlos gegangen.
22.
B ERLIN
12. Januar 1940
Stadtrand
Krauss kannte nur einen Menschen, dem er zutraute, Odas Leben zu retten. Den Menschen, der auch sein Leben gerettet
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