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Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Titel: Ein fremder Feind: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Isringhaus
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überrascht anzusehen, bevor ihm die Kugel die Stirnplattezertrümmerte und sein Leben beendete. Er sackte zu Boden. Oda hatte ihn bewusst zu diesem Ort geführt. Hierhin verirrte sich kaum jemand von den Dörflern, außerdem ließ sich die Leiche im bis ans Bachufer wuchernden Unterholz gut verbergen. Sie zog Lehmanns Körper ein paar Meter weiter ins dichte Gestrüpp, zerkratzte sich dabei die Arme. Dann inspizierte sie ihr Werk. Lehmann war erst zu sehen, wenn man unmittelbar vor ihm stand. Bis sein Verschwinden in der Dienststelle auffiel, würden Tage, wenn nicht Wochen vergehen. Im Dorf vermisste ihn auf jeden Fall niemand. So hatte sie Zeit gewonnen, um ihre Flucht fortzusetzen. Noch in der Nacht verschwand sie mit Philipp, nicht ohne vorher Lehmanns Zimmer zu durchstöbern. Sie fand fast sechshundert Mark und steckte das Geld ein. Ein Glückstreffer. Für Schubert hinterließ sie in ihrem Zimmer nur einen Zettel mit einer knappen Notiz: »Danke.« Genug für einen Mann weniger Worte.
    Oda schaffte es, mit Philipp unbehelligt die Grenze nach Frankreich zu überqueren. Sie hatte gehört, dass von Marseille aus Schiffe über Casablanca nach Buenos Aires gingen, und schlug sich in den Süden durch. Tatsächlich gelang es ihr, eine Reederei aufzutreiben. Doch ihre Hoffnung darauf, bald in Sicherheit zu sein, wurde jäh enttäuscht. Ihr Geld reichte nicht aus für zwei Tickets plus die Bestechungsprämien für Kapitän und weitere Offiziere. Alles Jammern, Bitten und Betteln verhallte ungehört. Der Zufall wollte es, dass Oda eine Familie französischer Juden – Eltern und zwei Kinder – im Büro der Reederei traf. Auch ihnen fehlte Geld, um alle an Bord zu bringen. Oda kam mit ihren Leidensgefährten ins Gespräch. Es waren rechtschaffene, ehrliche Menschen, die von ihren Verwandten in Polen Schlimmes gehört hatten und sich vor dem Golem, der sich in der Mitte Europas erhob, fürchteten. Ein karges Leben im Exil erschien ihnen hoffnungsvoller als das Warten auf die Katastrophe. Doch jetzt drohte ihr Plan anein paar Franc zu scheitern. In Buenos Aires würden sie von Freunden empfangen, das sei kein Problem.
    Als Oda die fehlenden Beträge hörte, durchzuckte sie ein Gedanke. Wenn die Familie Philipp als ihr Kind mitnehmen würde und dafür Odas Geld erhielte, müsste es für alle reichen – inklusive Bakschisch. Nur sie selbst würde auf der Strecke bleiben. Ein Gedanke, mit dem sie sich anfreunden konnte. Hauptsache, Philipp war außer Reichweite seiner Häscher. Dafür hatte Krauss gekämpft, dafür war er gestorben, er und viele andere. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass sie sich das notwendige Geld beschaffte und Philipp nachreiste. Sie besprach die Idee mit den Eltern, die nach kurzer Überlegung einverstanden waren. Beide erkannten ihre Chance. Außerdem mochten sie den Jungen, auch die Kinder verstanden sich. In solchen Zeiten galt es, Mut zu beweisen. Jetzt musste Oda es Philipp beibringen. Der Junge hörte geduldig zu, schüttelte den Kopf und umarmte seine Beschützerin.
    »Lass mich nicht allein«, sagte er schluchzend.
    »Es ist nur für kurze Zeit«, antwortete sie. »Sobald ich genug Geld habe, komme ich nach, um dich zu holen.«
    »Promise«, sagte er.
    »Ich verspreche es. Du bleibst nicht allein. Aber so bist du wenigstens in Sicherheit.«
    Er weinte weiter, aber er fügte sich. Einen Tag später hielt die Familie ihre Fahrkarten in den Händen – einschließlich einer für Philipp. Oda stand am Kai, als das Schiff an einem dunstigen Morgen ablegte, und sie ertappte sich dabei, dass sie beinahe zufrieden zusah, wie Hitlers Sohn vollkommen unerkannt in ferne Gefilde entschwand.
    Drei Tage später überwältigten Görings Männer sie in ihrem Zimmer, zerrten sie am frühen Morgen aus dem Bett. Sie hatte keine Möglichkeit der Gegenwehr. Oda hatte nicht die geringsteAhnung, wer sie verraten haben könnte, doch es gab viele Franzosen, die mit den Nazis kooperierten. Wenige Stunden nach dem Überfall saß sie in einem Wagen, der sie zurück nach Deutschland brachte. Bis in diesen gottverdammten Zug.
    Ein Mann öffnete die Abteiltür und trat ein. Oda war ihm bereits vorher begegnet, er war bei einem kurzen Stopp in den Wagen gestiegen, hatte sich aber nicht vorgestellt. Er trug sein Haar zu einem langen Zopf gebunden. Was für ein Affe, hatte sie gedacht. Aber neben dieser geschmacklichen Entgleisung strahlte er etwas Beunruhigendes aus, etwas Dunkles, Gefährliches. Er setzte sich ihr

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