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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Eisläufer über einen See, landete alle paar Minuten eine Wespe auf seinen nackten Oberarmen oder dem reglosen Monument seines Gesichts – nicht um zu stechen, sondern um zu probieren, um zu prüfen, ob er womöglich aus Frischfleisch war, aus angeschnittenem Fleisch, das süß nach frischem Blut schmeckte. Endlich, zur Cocktailstunde, als alle Bäume von fahlen Sonnenlichtbändern gestreift waren und die Vögel in vorabendlicher Vitalität durch die Zweige flitzten, stand er auf, klopfte sich ab und schlenderte zurück zum Haus.
    Andrea saß mit Sierra am Küchentisch, und beide waren in die Modezeitschriften vertieft, die sie von der Welt weiter unten mitgebracht hatte. Irgend etwas war in der Mikrowelle und drehte sich endlos – mit Käse überbackene Makkaroni, dem Geruch nach. Am Tisch war für drei gedeckt, und auf der Anrichte stand eine Schüssel mit Salat, garniert mit Tomatenscheiben und Avocados. Bis auf ein Murren auf Andreas leise Begrüßung hin sagte Tierwater nichts, sondern ging schnurstracks auf die Hausbar zu und mixte zwei große Wodka Tonic mit einem Schuß Limettensaft. Er nahm einen großen Schluck aus dem einen, dann brachte er seiner Frau den anderen. »Gut«, sagte er. »Gut, du hast recht.«
    Sierra konzentrierte sich auf die Heftseite vor sich, Hochglanz und Farbe, irgendeine Band, irgendeine Schauspielerin, irgendein Model. Ohne aufzusehen, sagte sie: »Womit denn?«
    Andrea gab ihm mit Blicken ein Zeichen. »Nichts, Liebes«, sagte er automatisch und schlenderte hinaus ins Freie, ließ dabei die Schiebetür hinter sich ein Stück weit offen. Kurz darauf folgte ihm Andrea nach, den Drink in der Hand. Er drehte sich um und sah zu, wie sie die Tür schloß.
    »Gut, Ty«, sagte sie. »Es ist am besten so. So können wir aus alledem wieder rauskommen.«
    Er senkte die Lider, zuckte die Achseln, spürte den kalten Biß der Eiswürfel, als er den Drink zum Mund hob.
    Sie lag in seinen Armen, drückte ihn, ihr Gesicht war ganz nahe. »Aber das Schönste hast du noch gar nicht gehört, und das ist großartig, es wird dir gefallen...«
    »Sicher«, sagte er, stieß sich von ihr weg und trat an den Rand der Veranda, »gewiß doch. Aber laß mich raten: Du bäckst mir jede Woche Kekse, während ich im Knast sitze, ja? Du strickst mir einen Pulli für die kalten Nächte im Zellentrakt, wenn die Ärsche die Heizung abschalten...«
    Ihre Miene blieb kühl. »Das ist nicht witzig, Ty. Es ist das Beste, was wir kriegen können, und wir werden es voll ausnutzen. Wenn wir uns stellen, dann wird das die landesweite Spitzenmeldung der Nachrichten.«
    Er sagte nichts. Er wußte nicht genau, worauf sie hinauswollte, aber es gefiel ihm nicht.
    »Jetzt hör mal zu«, sagte sie, und nun war sie voller Energie, sie sprudelte geradezu, glühte wie eine autonome Stromquelle, Dreihundertwattlächeln und Radaraugen. »Erinnerst du dich an meinen Urgroßvater?«
    »Hab ihn nie kennengelernt.«
    »Ich meine seine Geschichte.«
    Die kannte er. Sie war die Urenkelin von Joseph Knowles, einem archetypischen Öko-Freak. An einem wolkigen Frühlingstag im Jahre 1913 in den Wäldern von Maine legte er für ein Rudel Reporter einen Striptease hin: er leerte seine Taschen, breitete Uhr, Portemonnaie und Klappmesser sauber vor sich aus, faltete Jackett, Weste, Hose und Hemd ordentlich zusammen, bis er schließlich nur noch die lange Unterhose anhatte. Letztlich legte er auch die ab, so daß er nackt und bleich vor ihnen stand. Dann wiederholte er das Credo, das die Journalisten hergelockt hatte – daß die Natur um ihrer selbst willen zu schützen sei, als Nährmutter der Menschheit –, und verschwand in den Wäldern, um sich von der Natur zu nähren. Braungebrannt, knackig und erheblich dünner, obendrein gebissen, gestochen und ausgesaugt von jedem Insekt der Gegend kam er zwei Monate später an derselben Stelle wieder heraus und verkündete vor einer noch größeren Menschenmenge, sein Gott sei die Wildnis und der Wald seine Kirche. »Nein«, sagte Tierwater. »Das ist nur ein Witz. Sag mir, daß es nur ein Witz ist.«
    Da war die Welt, da waren die Bäume, da war seine Frau. Das Licht war perfekt, gefangen in jenem zarten Moment zwischen Hell und Dunkel, die höchsten Wipfel der Bäume auf der Hügelkette hinter ihnen loderten. Sie kam wieder auf ihn zu, und er sah nichts mehr außer ihren Augen und Lippen, ihren glänzenden Lippen, ihren roten, vollen, überzeugenden Lippen. Sie küßten einander. Er hielt sie

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