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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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sich angestrengt durch einen dunklen Strähnenknoten. »Du bist eben härter als ich. Das weiß doch jeder.«
    Sie warf den Kopf samt Haarschopf nach hinten. Jetzt funkelte sie ihn an. »Das ist kein Scherz, Ty. Der Typ ist uns auf der Spur – wenn du das nicht siehst, bist du blöd. Und ich sag dir eins: wir ziehen nicht wieder um, jetzt wo Sierra hier in die Schule geht und...«
    »Wer redet vom Umziehen?«
    »Ich. Entweder das oder Gefängnis, stimmt’s? Entweder das oder das Scheiß-FBI, das uns um vier Uhr morgens die Tür eintritt.«
    Tierwater verspürte einen Schauder. Glaubte sie das wirklich? Woher sollte denn irgend jemand etwas wissen? Es gab keinerlei Beweise, nicht den geringsten. Und jede Hintergrundüberprüfung würde nur den sauberen, klaren, geradlinigen und liebevoll zusammengestellten Lebenslauf von Tom Drinkwater ergeben, dem früheren Lehrer, angehenden Autor und Familienmenschen. »Du beliebst wohl zu scherzen.«
    Sie scherzte nicht. »Ich habe dich gewarnt«, sagte sie, und dann legte sie mit einer netten, kleinen, gutverpackten Rede los, die sie vermutlich die lange Fahrt von der Küste einstudiert hatte. Sie war noch mal in Oregon gewesen. Hatte mit Fred geredet. »Er hat an die zweihundert Stunden in den Fall investiert, Ty – ist dem ermittelnden Staatsanwalt praktisch in den Arsch gekrochen, ganz zu schweigen von den FBI-Leuten –, und er hat uns was ausgehandelt. Keine falschen Namen mehr, kein Erschrecken bei jedem Klopfen an der Tür.«
    Tierwater sah an ihr vorbei zu den Espen, die den ersten Hauch des Windes anzeigten, der aus Westen zu wehen begann. Es war warm in der Sonne, und der Wald lag still da, bis auf das Summen der Bienen – Faltenwespen –, die überall hier alle drei Meter ihre Nester im Boden hatten, so weit das Auge reichte. »Und ich gehe in den Knast«, sagte er, »stimmt’s?« Er schwang die Beine aus der Hängematte, stellte die Füße auf die Holzbretter. »Aber du nicht.«
    »So ist es, Ty: ich nicht. Aber ich bin auch auf niemanden losgegangen oder aus dem Gefängnis ausgebrochen. Aber laß uns jetzt nicht streiten, denn es ist richtig so, und das weißt du auch – und es ist das Beste für Sierra.«
    Er wollte ihr von den Eskimos erzählen, daß sie keine Gesetze und Gefängnisse kannten und inmitten der Natur lebten – sie kochten nicht mal ihr Fleisch, weil sie weder Holz noch Kohle noch Öl hatten, weshalb sie ja auch Eskimos genannt worden waren: »Die rohes Fleisch essen«. Und wenn es zu einem Konflikt kam, brauchten sie zum Schlichten keine Rechtsanwälte – die Streitparteien beleidigten einander einfach mit Gesängen, bis einer von ihnen die Fassung verlor. Wer zuerst schlappmachte, hatte unrecht, so einfach war das. Tierwater war allerdings klar, daß er bei diesem Rechtssystem natürlich auch nicht viel bessere Karten gehabt hätte als bei dem von Fred und Richter Duermer – nicht bei seinem Temperament.
    »Es ist alles arrangiert«, sagte Andrea. »Der Staatsanwalt – es ist ein neuer namens Horner, ein jüngerer Typ –, dem ist klar, daß die Sache sich aus einer friedlichen Demonstration heraus entwickelt hat und daß du einfach nur versucht hast, deine Tochter zu beschützen...«
    »Wie lange?«
    »Was meinst du damit?«
    »Du weißt, was ich meine – wie lange muß ich sitzen?«
    Sie blickte beiseite, zupfte an ihren Haaren. »Sechs Monate«, sagte sie. »Bis ein Jahr. Aber sieh mal, ich kriege nur eine Bewährungsstrafe – und wir bekommen Sierra zurück. Ich meine, das ist doch das Wichtigste, oder?«
    Anfangs wollte er nichts davon hören. Wollte es nicht einmal erwägen. Sich stellen? Ins Gefängnis gehen? Wofür denn? Waren sie in Nazideutschland oder in Pol Pots Kambodscha? Gefängnis? Er war empört. So empört, daß er einen Stuhl in die Freiluftbadewanne geschleudert hatte, über das Geländer geflankt, quer über das Gelände und in den Wald davonmarschiert war. Den ganzen Nachmittag hatte er zwischen den Bäumen bei den Wespen gesessen, jede eine exakte Kopie derjenigen, die Jane erledigt hatte, und sich die Sache überlegt. Ein Nadelbaum war ihm Rückenlehne, und er überkreuzte die ausgestreckten Beine an den Knöcheln – er war wieder auf der Erde: heute keine Wolkenschau mehr. Er musterte seine gefalteten Hände, die verstreuten Kiefernzapfen, die Riesenameisen, die seine Stiefel erklommen. Während die Sonne durch die Bäume fiel und die Raben krächzten und die Erdhörnchen über den Waldboden huschten wie

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