Ein Freund der Erde
unvermeidlich. Mac bestand auf der Weiterführung der Charade für ein bis zwei Wochen, auch nachdem die Meldung bestätigt wurde, aber es erleichterte uns alle doch sehr, als er eines Tages zum Mittagessen erschien und seine Nase und die schmalen, blassen lachsfarbenen Lippen zu sehen waren. Ich erinnere mich noch an das Gefühl der Befreiung, als ich die müffelnde Maske abwarf und meinen Zahnersatz in einen fetten, leckeren Chili-Käse-Burrito schlug, ohne mich darum sorgen zu müssen, ob ich bei jedem zweiten Bissen Gaze im Mund hatte.
»Bist du rausgekommen, um mir das zu erzählen?« frage ich, und ich bin genervt, ein bißchen jedenfalls, weil ich weiß, daß sie recht hat.
»Nein«, und ihre Stimme klingt zärtlich, während sie mit patschenden Stiefeln zu mir tritt und die großen Arme um mich schlingt, »ich wollte dir nur sagen, daß es heute Eier zum Frühstück gibt.«
»Eier?« Seit das Unwetter anfing, haben wir nichts mehr gegessen, was auch nur entfernt an Eier erinnerte, und vergiß das Cholesterin, ich stelle mir ein knusprig-goldenes Drei-Eier-Omelett auf dem Teller vor – oder nein, ich nehme meine Ration lieber pochiert und etwas flüssig, damit ich die Eier wirklich schmecke. »Wo hast du die denn her?«
Sie tritt ein Stück zurück und grinst mich verschmitzt an, dann hebt sie das Kinn macht eine Kopfbewegung in Richtung der Apartmentruinen. Die beiden Gebäude, die im November einstürzten, sind über den Winter allmählich im Schlamm versunken, ein Gewirr von ausgeweideten Sofas, kaputten Trainingsgeräten und Videoequipment liegt am anderen Ufer unter der grellen Sonne. »Der gute alte Tauschhandel«, sagt sie. »Da drüben gibt’s einen Jungen – ›Junge‹, was red ich? Der muß um die fünfundvierzig sein –, und der ist ein großer Pulchris-Fan, war auf allen Konzerten damals, hat sich alle Songs aus dem Netz runtergeladen und so weiter...«
Ich grinse. »Und er hat Hühner.«
»Geld wollte er keins haben, aber April hat ihm ein paar alte Tournee-T-Shirts gegeben – mit Macs Erlaubnis natürlich.«
»Wie nützlich doch die Vergangenheit ist«, sage ich, und dann hake ich mich bei Andrea unter, und wir stapfen über das Gelände zurück zum Haus, in Sonnenschein gebadet.
Ich weiß noch, daß in dem Winter, als Sierra auf ihren Baum geklettert ist, die Sonne nicht allzuoft schien. In dem Jahr damals tobte sich El Niño wirklich aus: ein Sturm nach dem anderen fegte über die Küste, überschwemmte die Flüsse und unterspülte die Straßen, Erdrutsche, Riesenwellen, Scheibenwischerverschleiß, tropf-tropf-tropf, und alle waren so deprimiert wie die Schweden. Niemand hatte daran Freude – außer vielleicht die Surfer. Und Coast Lumber. Coast Lumber fand das Wetter herrlich. Bei Coast Lumber wäre man kaum erfreuter gewesen, wenn man es bestellt hätte. Eine Baumschützerin namens Sierra Tierwater, einundzwanzig Jahre alt und vollkommen unbekannt – die Tochter eines Niemands, garantiert –, war unbefugt in ihren Privatbesitz eingedrungen, hatte einen der großen alten Redwoods besetzt, und nun wartete die Presse darauf, daß die Firma ein paar ihrer Gorillas auf den Baum schickte, um sie herunterzuzerren, so brutal wie möglich. Aber das würden sie nicht tun. Wozu der Aufwand? Warum sich mit ihr abgeben? Sie brauchten sich ja nur in ihren getäfelten Büros bequem zurückzulehnen und sie dem Wetter zu überlassen. Und dann, heimlich, still und leise, während die Öko-Freaks und Fossilien-Fans in ihren Wohnungen hockten und zusahen, wie der Regen an den Fenstern herunterrann, konnten sie den Baum umhacken und alle übrigen auch, damit hätten die Proteste ein für allemal ein Ende.
In jener ersten Nacht, als ich hinauffuhr, um ihr bei dem Unwetter beizustehen, war ich so desorientiert, daß ich sie nicht mal gefunden hätte, wenn sie mir mitten im Wald an der Kasse eines hellerleuchteten Supermarkts erschienen wäre. So konnte ich nur meinen persönlichen Leidensquotienten erhöhen, wieder einmal eine dunkle Nacht der Seele durchleben, von Angesicht zu Angesicht mit meiner eigenen Angst und meinen verlorenen Hoffnungen. Betrunken stolperte ich in diesem Friedhof der Bäume herum, während der Wind heulte und Äste niederstürzten. Ich weiß nicht, wie lange ich da draußen war, aber es war eine Erlösung, als ich endlich mein Auto wiederfand, obwohl es bis zur Karosserie im Schlamm steckte und hoffnungslos festsaß. Mein Kopf schmerzte rasend, meine Kehle war so trocken,
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