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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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als hätte sie jemand die ganze Nacht hindurch mit einem Bandschleifer bearbeitet, und ich war bis auf die Haut durchnäßt. Mir war schwindlig. Und übel. Es schüttelte mich vor Kälte. Ich zog mir die Sachen aus, Socken wie nasse Fische, Unterwäsche wie etwas, mit dem man Toiletten ausgewischt hatte, und dann, mit dem Gedanken Sierra, Sierra im Kopf, kroch ich in Andreas Mumienschlafsack und war im nächsten Moment eingeschlafen.
    Der Morgen war nicht viel anders als die vergangene Nacht. Der Regen fiel ohne Grund und ohne böse Absicht, irgendwo in der Nähe rauschte ein unsichtbarer Bach, der Wagen sank noch tiefer in den Schlamm. Eine quantitative Änderung des Lichtes mochte eingetreten sein, das allmähliche Einsickern von Sichtbarkeit in die Düsternis, doch viel war es nicht. Ich streifte kalte nasse Socken, nasse Jeans, nasse Stiefel, das nasse T-Shirt, den nassen Pulli und den nassen Anorak über und zog los, meine Tochter zu suchen. Diesmal lief ich geradewegs zu ihrem Baum.
    Es wuchsen acht Redwoods in ihrem Waldstück, zwei davon waren an der Basis zusammengewachsen und geschwärzt von einem alten Feuer, das auch den Stamm ihres Baums lädiert hatte, und der Wald aus Flußzedern, Tannen, Ponderosa- und anderen Kiefern war ein Labyrinth von Stämmen, das sich über die Hügel ausbreitete. Außer im Westen, wo die Haut der Erde durchschien und nichts mehr zu sehen war als Astwerk und Stümpfe, so weit das Auge reichte. Dieses Waldstück war als nächstes dran, und meine Tochter – falls sie noch lebte und nicht nur ein Haufen aus zerfetztem Fleisch und gebrochenen Knochen war, aus den Bäumen geschleudert wie ein Wasserballon – war entschlossen, diese Entweihung zu verhindern. Dafür war ich stolz auf sie, aber auch besorgt. Ich hatte Angst um sie. Ich drückte mich an den nassen dunklen Stamm und sah nach oben – ihre Plattform, die dunkle Sperrholzplatte war noch da, mit Nylonseilen an zwei massiven Ästen festgezurrt. Ich stieß mich vom Baum weg, um einen besseren Blickwinkel zu haben, blinzelte gegen den fallenden Regen, und dann sah ich das grelle Orange ihres Zeltes im Wind wabern wie eine Welle auf ungestümer See. Sie war da. Sie lebte. »Sierra!« schrie ich, die Hände an den Mund gelegt.
    Eine Sturmbö schüttelte die Wipfel, und Sierras Baum erbebte, daß ich es in den Füßen spürte. Ich sah auf, und da war sie, ihr Gesicht ein ferner, kleiner weißer Fleck in einem Gewirr peitschender grüner Nadeln. Und dann erklang ihre Stimme, vom Wind verweht und vom Regen getrieben, segelte sie herunter wie ein Blatt: »Dad?« rief sie. »Dad!«
    Mir brach das Herz, aber sie grinste, sie grinste wirklich, wenn ich das richtig sah – und schon damals waren meine Augen nicht gerade berühmt. »Sierra!« rief ich und fühlte mich, als wäre mein Innerstes nach außen gekehrt. Ich wollte nicht, daß sie da oben war. Ich wollte bei ihr da oben sein. Ich wollte Bomben auf Coast Lumber werfen, ihre Schwermaschinen lahmlegen, ihre Aktionäre erwürgen. »Liebes?« rief ich mit überschnappender Stimme. »Willst du nicht runterkommen?«
    Es schien eine Stunde zu dauern, bis ihre Antwort den weiten Weg zu mir herabdrang, der Baum ächzte, der Regen prasselte, mein Herz war wie ein Stahlbolzen in der Tiefe meiner Kehle, doch die Antwort hieß nein. »Nein!« brüllte sie, die schmalen weißen Hände ebenfalls an den Mund gelegt, damit es eindringlicher klang. »Nein!« Die Botschaft fiel zusammen mit dem Regen auf mich.
    Ich war ihr Vater. Ich kannte ihr Wesen, hörte die Entschlossenheit in ihrer Stimme, den Fanatismus: sie würde nicht herunterkommen, heute jedenfalls nicht, und Streiten hätte keinen Zweck. »Morgen vielleicht?« rief ich mit verspanntem Nacken, weil ich den Kopf so weit zurücklegen mußte, um zu ihr hochzusehen. »Wenigstens bis der Regen aufhört? Du kannst ja jederzeit zurück – wenn das Wetter besser ist!«
    Wieder schwebte die Antwort herab, diesmal in einem langgezogenen Blöken des Protests: »Neiiiiiin!«
    Na schön. Aber brauchte sie irgend etwas? »Brauchst du irgend etwas?« rief ich.
    Der Regen lief mir den Rücken hinunter. Ich zitterte krampfhaft. Meine Kehle brannte. Der Kopf tat mir weh. Mit der Zeit würde sie alles mögliche brauchen: ein chemisches Klo, Bücher, Zeitschriften, Zeichenmaterial, ein Mobiltelefon, Brennstoff für ihren Campingkocher, ein Spezialgeschirr, damit sie sich auf zehnMeter abseilen konnte wie eine große bleiche Spinne, um die endlosen

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