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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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ich diese Idee jetzt, da sie geplatzt ist, noch verzweifelter verwirklichen, als ich sie ihr anfangs ausreden wollte. Ergibt das einen Sinn? Na schön, dann nennt es Sentimentalität. Oder nennt es Hoffnung, Wut, Verzweiflung, nennt es, wie ihr wollt, aber ich will Zeugnis ablegen, und das werde ich auch, und wenn ich mich in April Winds Zimmer schleichen und ihr das Manuskript klauen muß, um das Buch selbst zu Ende zu bringen.
    Sierra hat für ein Ideal alles aufgegeben, und wenn das nicht die Definition einer Heldin ist, dann weiß ich auch nicht. Sobald sie einmal auf diesem Baum saß, war es gelaufen: ihr Leben war vorbei. Sie hatte niemals Kinder, hatte nie ein Haus, ein Tier, nicht mal eine Wohnung, sie ist nie wieder einkaufen gegangen oder hat sich spontan irgendwas geleistet, hat nie mehr ferngesehen oder war im Kino, hatte weder Freundin noch Liebhaber. Von ihrem Vater war sie eintausendzehn horizontale Kilometer und fünfundfünfzig vertikale Meter getrennt, ebensogut hätte sie auch im Gefängnis sitzen können. Drei Jahre lang, den bitterkalten Winter und den Hochofen des Sommers hindurch, badete sie kein einziges Mal. Ihre Kleider stanken, ihre Haut brannte, sechs Tage die Woche aß sie Gemüsereis und sonntags Linsensuppe. Um sich zu entleeren, kauerte sie über einem Eimer. Finger und Zehen fühlten sich an, als würden sie bald abfallen, ihre Rückenschmerzen waren schlimmer als die ihres Vaters, und sie hatte ein Loch in einem der oberen Backenzähne, das sich mitten durch den Kopf zu bohren drohte. Sie war nie in Paris. Ging nie auf die Uni. Streckte sich nie mehr vor dem brennenden Kamin auf dem Sofa aus und lauschte dem Regen auf dem Dach.
    Coast Lumber versuchte sie anfangs zu ignorieren, doch nachdem El Niño sie nicht heruntergeholt hatte, wurde sie langsam zur peinlichen Angelegenheit – schlimmer noch: zu einer Belastung. Denn je länger sie ausharrte, desto mehr Menschen wurden auf sie aufmerksam. Niemand hatte jemals länger als zwanzig Tage einen Baum besetzt, bevor Sierra auf Artemis geklettert war, und als sie die Einmonatsgrenze überschritt, begann sich die Presse um ihr schwindendes Wäldchen im Headwaters Forest zu scharen. Teo, der nie eine gute Gelegenheit ausließ, führte die Journalisten selbst bis zum Baum und half sogar ein paar von den Hartgesotteneren auf die untere Plattform hinauf (sie hatte mittlerweile zwei, eine in rund dreißig Meter Höhe, die sie für Interviews und zumKochen benutzte, die andere war fünfundfünfzig Meter hoch und ihr privater Raum, zum Meditieren und zum Schlafen). Andrea brachte ihr ein Mobiltelefon, und am Ende des zweiten Monats plauderte sie täglich zwei, drei Stunden – manchmal mit Vater oder Stiefmutter, durchaus, hauptsächlich aber gab sie Interviews, klärte die Öffentlichkeit auf, warf den Fehdehandschuh auf den Waldboden.
    Die anderen zwei Baumbesetzer – ein mageres Mädchen mit Bürstenschnitt und ein bärtiger Neunzehnjähriger mit traurigem Blick, der nur als Leaf bekannt war; beide in nahen Waldstücken positioniert – hatten nach der ersten Woche mit unbarmherzigem Regen und Böen der Windstärke neun aufgegeben, wodurch man sich bei Coast Lumber garantiert bestätigt fühlte. Schieres Nichtstun war ihre Politik. Gewalt vermeiden. Schlechte Presse unterdrücken, bevor sie ihr häßliches Haupt erheben und einen in den Fuß beißen konnte. Doch mit meiner Tochter hatten sie nicht gerechnet. Sie war keine von diesen Neo-Hippie-Studentinnen mit Bodypiercings, die in den Sommerferien ein paar Parolen skandierte und sich an Firmenlimousinen kettete – sie war ein leuchtendes Fanal hoch oben in ihrem Baum, unbeirrbar und unerschütterlich, eine Jeanne d’Arc, die ihre Soldaten in die Schlacht führte, und sie hatte nichts zu verlieren als Haut und Knochen. Sie mußten sie beseitigen. Sie hatten keine andere Wahl.
    Nehmen wir einen Morgen, irgendwann im zweiten Monat. Sieben Uhr früh. Leiser Regen fällt im still dahintreibenden Rhythmus der Unendlichkeit, die dichten Baumreihen, der Himmel so nah, daß er von innen zu leuchten scheint. Sierra schläft noch. Eingepackt in Thermowäsche, vergraben im Schlafsack, auf einer Isomatte ausgestreckt unter dem Dach des grellorangen Zelts auf der beengten Holzplattform fünfundfünfzig Meter über der Erde. Der Wald atmet ein und aus. Auf einen Ast zwanzig Meter unter ihr läßt sich ein Marmoralk nieder. Sie träumt vom Fliegen. Nicht vom Fallen – diesem Traum weicht sie dezidiert

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