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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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aus auf ihrem Lager so hoch über der Erde, sogar im Unterbewußtsein –, sondern davon, daß ihr Flügel wachsen und sie von der Plattform abhebt, um dicht über das Sägewerk zu gleiten und an Höhe zu gewinnen, bis der Wald immer kleiner wird und dann auch die Hügel und selbst der Ozean, höher und höher, bis sie den Satelliten und den glitzernden Metallbändern ihrer Umlaufbahnen ausweichen muß und einen ungehinderten Blick auf die Erde hat. Der blaue Planet. So treibt er durch ihren nur halbwachen Verstand, gleich hinter den Augenlidern, gehalten von nichts weiter als dem kalten schwarzen Nichts, als auf einmal die Plattform erbebt.
    Sie wacht auf. Späht durch die Öffnung am Südende ihres Zeltes. Und sieht eine Hand, eine Menschenhand, die sich in der Ecke der Plattform anspannt wie eine vogeljagende Raubspinne im Amazonasbecken. Sie träumt. Sicher träumt sie noch, schlafend und wachend zugleich. Leises Ächzen ertönt, dann taucht eine weitere Hand auf – und im nächsten Moment schiebt sich ein Kopf ins Bild, überheblicher Blick, ein schmaler Strich von einem Mund, das Gesicht gerahmt von einem Bart, der die Farbe von Kaffeesatz hat. Es ist ein Gesicht voller Andeutungen, und es gehört Climber Deke, einem achtundzwanzigjährigen Angestellten von Coast Lumber, der darauf spezialisiert ist, Bäume zu erklimmen und unbefugte Gäste zurück nach unten zu eskortieren, wo man sie ordnungsgemäß verhaften und anzeigen kann.
    Fünfundfünfzig Meter über dem Boden. Sieht man aus dieser Höhe hinunter, scheinen es eher hundert Meter zu sein. Menschen sind so groß wie Püppchen, die Eich- und Erdhörnchen, die über den Waldboden flitzen, nahezu unsichtbar, die abgebrochenen Äste, Manzanitasträucher und Felsblöcke bilden Muster wie auf einem urzeitlichen Teppich. Sierra verachtet Seile, Sitzgurte und alle sonstigen Sicherungsmittel. Sie ist barfuß, um besseren Halt auf der Rinde zu haben, und sie verläßt sich auf Artemis – ihren Baum, den Geist ihres Baumes –, die sie halten wird. »Wer –?« sagt sie, bekommt aber den Rest nicht heraus.
    Er hat jetzt ein Knie auf der Plattform, und sein Blick läßt sie keine Sekunde lang los. Hemmungen kennt er nicht, hat keine Scheu davor, einfach in den Ruheraum einer schlafenden Frau zu schleichen oder in die Intimsphäre eines anderen Menschen einzudringen. Die Sache ist, er sieht nicht übel aus: die Haare sauber gekämmt, der Bart adrett gestutzt, sein Blick wird freundlich und warm. »Guten Morgen, Sierra«, sagt er, und auch die Stimme klingt nett, und sie fragt sich, ob das ein Neuer aus der E.F.!-Hilfstruppe ist oder vielleicht ein wahrhaft tollkühner Reporter, aber da durchfährt sie auch schon der Ärger. Die wissen doch genau, daß sie so früh keine Interviews gibt – und zumindest sollten sie vorher anrufen. Ihr Haar sieht grauenhaft aus. Sie streift eine Strickmütze darüber, setzt sich auf und zieht die Beine aus dem Schlafsack. Und Climber Deke? Der kauert am anderen Ende ihrer Plattform auf seinen Spikesschuhen – zwei mal zweieinhalb Meter, mehr hat sie nicht hier oben, ein doppeltes Sperrholzbrett, und er halbiert glatt ihren Platz, sie spürt sein Gewicht und wie die Plattform sich ihm durch Nachgeben anpaßt. »Weißt du, wer ich bin?«
    Sie sitzt unter dem orangefarbenen Baldachin, in Sweatshirt und Parka, darunter Thermounterwäsche, und ihre bloßen Füße werden rasch kalt. Sollte das eine Art Quiz werden? Sie blickt ihm in die Augen und sieht die plötzliche Kälte darin, obwohl er immer noch lächelt. »Nein«, sagt sie, und ihr Atem bleibt in der Luft hängen, als wäre diese eine Silbe stofflicher Natur. Alles ist naß. Und glitschig. Es hat keine fünf Grad.
    Er trägt ein Flanellhemd, das vom Schweiß oder vom Regen oder von beidem naß ist, darunter ein Thermo-T-Shirt, das die Farbe eingetrockneten Blutes hat und im offenen Kragen sichtbar ist, dazu eine ausgefuchste High-Tech-Uhr und Hosenträger – rote Hosenträger. »Ich heiße Deke«, sagt er, »aber alle nennen mich Climber Deke.« Hier wurde das Lächeln zum Grinsen, als wäre das einer der besten Witze der Welt. Sie kennt ihn. Jetzt erkennt sie ihn. Die Hosenträger hätten sie auch so darauf gebracht. »Ich bin hier, um dich runterzuholen. Und das geht auf die leichte Art – ganz zivilisiert –, oder wir erledigen es auf die harte Tour, falls du das so willst. Aber so oder so kommst du von diesem Baum runter, meine Kleine, und zwar jetzt.« Er legt eine Pause

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