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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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amüsiert, dann interessiert und schließlich fast etwas erschrocken, und er wünschte, er könnte die Zeit anhalten.
    »Wißt ihr was?« sagte Ratchiss gerade. »Mein Leben hat sich echt um volle dreihundertsechzig Grad gedreht.«
    »Hundertachtzig«, sagte Andrea automatisch. »Von einem Pol zum anderen. Bei dreihundertsechzig wärst du ja wieder dort, wo du angefangen hast.«
    »Genau das mein ich auch: zurück zum Anfang.« Sein Gesicht war knallrot, seine Haut erinnerte an Pökelfleisch. Er trank einen Schluck Pinot noir und sah sich am Tisch um. »Wißt ihr, früher als Kind hab ich Tiere geliebt – und damit die ganze Natur –, dann hab ich sie auf einmal gehaßt und wollte alles umbringen, was Klauen oder Hufe hatte und sich am Horizont bewegte, und jetzt bin ich ein so ergebener Freund der Erde und aller Tiere, wie man es sich nur vorstellen kann.«
    Sierra spielte mit dem Besteck herum und stopfte Cola light und Chips in sich hinein. Auberginen mochte sie nicht, und Salat war Salat. »Wie kann man Tiere nur hassen ?« fragte sie.
    »Ach, das ist leichter, als man denkt. Schon mal überlegt, was unsere Vorfahren so empfunden haben, wenn Mami von einem Riesenkroko geschnappt wurde, als sie gerade ihren Lendenschurz am Fluß ausgewaschen hat? Oder wenn sie vom Feuer aufblickten und Opa in den Fängen eines Höhlenbären baumeln sahen, der so groß war wie der Baum da drüben? Oder werden wir konkreter und reden von den Tausenden armen Afrikanern, die jedes Jahr von Leoparden gerissen werden? Meinst du, die mögen die Leoparden? Oder meinst du, sie hätten sie am liebsten schwuppdiwupp ausgerottet?« Er lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Sierra zog ein Gesicht. »Ich erzähl dir mal ne Geschichte, eine wahre Geschichte darüber, wie ich wilde Tiere hassen lernte – warum ich meinen Schreibtischjob aufgab und nach Afrika ging. Es war wegen etwas, das mir passiert ist, als ich klein war, oder gar nicht mal so klein – wie alt bist du jetzt?«
    »Dreizehn.«
    »Dreizehn. Na ja, vielleicht war ich ein oder zwei Jahre jünger, weiß nicht mehr. Jedenfalls hatte mein Vater die Familie auf eine Urlaubsreise mitgenommen, damit wir mal die USA kennenlernen, sagte er, und so fuhren wir die weite Strecke von Long Island, wo ich aufgewachsen bin, zum Pike’s Peak, zum Grand Canyon und in den Yosemite Park – übrigens gar nicht so weit weg von hier. Ich hatte eine Schwester, Daphne, sie muß damals etwa vier gewesen sein, ein kleines Mädchen mit Pony und Grübchen und einer Spange im Haar, und die letzten dreihundert Kilometer der Fahrt redeten wir über nichts anderes als Bären. Ob es wohl wirklich Bären im Yosemite gab? Wilde Bären? Würden wir welche sehen? Mein Vater war ein solider Mann von Mitte Fünfzig – er hatte spät geheiratet, und meine Mutter war zwanzig Jahre jünger –, der im Krieg mit einer Konservenfabrik reich geworden war. Er hatte ein schmales Schnurrbärtchen, fällt mir jetzt ein, wie es die Schwerenöter in alten Filmen tragen. Auf jeden Fall drehte er sich auf dem Sitz um und sagte: Klar, natürlich werdet ihr welche sehen. Dafür ist der Park doch berühmt. Für seine Bären.
    Das Ganze war übrigens in den Vierzigern, bald nach dem Krieg. Wir hatten damals einen Packard, groß wie ein Leichenwagen, er war entweder dunkelbraun oder dunkelblau, ich weiß es nicht mehr... Und die verfluchten Bären waren tatsächlich da, gleich hundert oder so standen aufgereiht an der Straße in den Park hinein, wie Erdnußverkäufer im Yankee Stadium, Bären in allen Farben, von Nachtschwarz über Kackbraun und Pfirsichorange, Vanillebeige bis Rötlichblond. Zu jener Zeit bemühte sich die Parkverwaltung nämlich, etwas für den Tourismus zu tun, und deshalb taten sie etwas für die Bären, indem sie Müll verstreuten, statt ihn aufzusammeln, weil die Leute sich natürlich auch gern die Bridalveil-Wasserfälle und all das ansahen, aber wer die Natur erleben will, dachten sie, wer sie wirklich erleben will, dem muß man Bären bieten.
    Die Autos waren stehengeblieben, jedes hatte einen Bären am Fenster, die Leute fotografierten sie aus nächster Nähe – wenige Zentimeter waren das – und fütterten sie direkt ins Maul mit Marshmallows und Wurstbroten, Schokoriegeln, was sie eben hatten, als wären sie nur große zottige Hunde. Einige hatten die Fenster heruntergekurbelt und beugten sich halb aus dem Wagen, um ihnen einen Bissen von diesem oder jenem hinzuhalten, und die Bären

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