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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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zogen eine Show ab, ließen sich auf den Hintern plumpsen, zeigten kleine Tricks oder stießen diesen nasalen, kehligen Ton aus, der mich immer an eine Posaune im Kleiderschrank erinnert. Es war das Irrste in meinem ganzen Leben. Ich war so aufgeregt, daß ich bis an die Wagendecke hüpfte, und meine Schwester auch, aber aus irgendeinem Grund waren alle Bären beschäftigt, und keiner achtete auf uns, jedenfalls nicht gleich. Was ist denn los, Dad? hab ich genörgelt. Warum kommen die nicht zu uns? Und mein Vater ließ das Fenster runter – alle ließen wir die Fenster runter, sogar meine Mutter –, lehnte sich weit hinaus und warf ein Paket Scheibenkäse auf den Asphalt, etwa drei Meter vor den nächststehenden Bären, dabei machte er schmatzende Geräusche, um ihn anzulocken. Ich erinnere mich gut an den Bären. Er war mittelgroß, schwarz wie ein Autoreifen und hatte zu kleine Augen, die wie in den Kopf gebrannt wirkten.
    Offenbar hatte er meinen Vater gehört – oder das feuchte Aufklatschen der Scheibletten –, und er drehte sich um, schnüffelte und vertilgte den Käse, samt Wachspapier, dann schlenderte er zum Wagen, schwenkte den Kopf, um unsere Witterung aufzunehmen, und er roch wie zwei riesige, in einen alten Teppich gewickelte Hunde. Ich erinnere mich noch an seinen Geruch – immer noch, nach all den Jahren und den vielen Viechern, die ich gejagt und erschossen und gehäutet habe. Es war ein ranziger, wilder Geruch, der uns umfing, als wäre der Wagen plötzlich einen Berg hinabgerollt und in einen Sumpf oder eine Jauchegrube gestürzt, und ich kriegte Angst, aber nur kurz und nicht so sehr, als daß ich mich nicht aus dem Fenster gereckt und ihm eine ganze Tüte Popcorn gefüttert hätte, Stück für Stück, und dann die Marshmallows, die wir eigentlich abends über dem Feuer rösten wollten.
    Inzwischen stiegen die Leute hinter und vor uns aus den Wagen aus – so viele, daß man kaum noch die Bären sah. Alle hatten Fotoapparate, und einige boten den Bären auch ausgefalleneres Zeug an, wie Hot dogs am Spieß oder ein Glas mit Erdnußbutter – ein Typ hielt dem Bären sogar eine Ananas hin, und obwohl ich sicher bin, daß das Tier keine Ahnung hatte, was das war, fraß es sie auf, samt der stacheligen Rinde. Da ging auch mein Vater auf unseren Bären zu – den schwarzen mit den eingebrannten Augen, der ihm kaum bis zur Hüfte reichte – und kam auf die Idee, er könnte ein Foto von ihm schießen und ihm dafür eins von uns Kindern auf den Rücken setzen.«
    »Du machst Witze«, sagte Tierwater. Sierra warf einen Blick aus dem Fenster. Sie kauerte über ihrem Teller und schlug rhythmisch die Knie gegeneinander. Sie sprach kein Wort.
    Ratchiss schüttelte nur den Kopf. »Ich war schon zu groß, also gab er die Kamera meiner Mutter und hob meine Schwester hoch. Er hatte vor, sie dem Bären, der gerade das Popcorn auf dem Boden beschnupperte, ganz kurz über die Schultern zu halten. Meine Schwester trug ein weißes Kleid mit rosa Blümchen drauf, das sieht man auf den Fotos, und eine Schleife, ich erinnere mich an eine Schleife.« Er rückte vom Tisch weg, zog an seiner Zigarette und stieß sehr langsam den Rauch aus. »Und das war’s. Mein Vater lag sechs Monate lang im Krankenhaus. Was von meiner Schwester übrig war, konnten wir nur begraben.«
    Andrea beugte sich vor, beide Hände um ihr Weinglas gelegt. »Das muß schrecklich für dich gewesen sein...«
    »Ich hab alles mit angesehen, meine Mutter schrie, mein Vater rang mit diesem knurrenden Blitz aus stinkender, primitiver Energie, meine Schwester... und ich unternahm nichts, gar nichts, stand einfach nur da... ich habe mein halbes Leben gebraucht, mir jedesmal, wenn wir am Strand oder im Schwimmbad waren und ich das entstellte Gesicht meines Vaters oder die geschwungenen weißen Narben auf seinem Rücken sah, klarzumachen, daß nicht der Bär daran schuld war.«
    »Sie ist gestorben?« fragte Sierra, aber niemand antwortete ihr.
    Nach einer angemessenen Pause, in der Ratchiss den Fleischsaft anstarrte, der auf seinem Teller koagulierte, und sie alle eine Zeitlang der Stille lauschten, die im Wald über dem Haus brütete, bewegte sich das Gespräch zu anderen Themen. Es gab Kaffee und heiße Schokolade für Sierra, dann zogen sie sich zurück ins große Wohnzimmer, um ein Scheit Holz aufs Feuer zu werfen und zuzusehen, wie die Flammen daran nagten. Irgendwann später, Andrea und Ratchiss unterhielten sich leise über Büffel mit Bauchschuß

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