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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Passanten und suchte unter ihnen einen jungen Mann in einer schwarzen Lederjacke. Aber die Leute da unten gingen ihren eigenen Geschäften nach, und keiner von ihnen erregte meinen Verdacht.
    Er wird kaum bei Tageslicht auftauchen, dachte ich. Und vor den Augen der Menge wird er mich auch nicht töten. Eher schon abends oder nachts, so daß ich mich tagsüber sicher fühlen kann.
    Ich hatte keine Lust mehr zu sterben. Das Leben ging weiter, es hatte einen kleinen, nur für mich erkennbaren Sinn bekommen. Ich konnte wieder frei wählen, was ich tun wollte. Das, was ich vor zwei Wochen gewählt hatte, gefiel mir nicht mehr. Ich wollte weiterleben.
    Als ich mich ein wenig beruhigt hatte und zu mir gekommen war, holte ich unter der Wanne die Dollar hervor. Ich zählte fünfhundertfünfzig für Dima ab, meine Schulden plus zehn Prozent. Jetzt war ich zwar entschieden ärmer, aber auch mit dieser Summe konnte man einige Zeit leben, ohne sich um die Zukunft Sorgen zu machen.
    Draußen war es wieder sonnig und kühl. Auf dem Weg zur Autobushaltestelle bemerkte ich, daß die Bäume keine grünen Blätter mehr hatten.
    In Dimas Kiosk stand eine alte Frau in einem grauen Mantel mit einem zerschlissenen Kragen vor dem Ladentisch. Er zeigte ihr eine chinesische Wasserpistole.
    Als er mich sah, nickte Dima.
    »Mein Enkel hat Geburtstag …«, murmelte die Alte. »Und was kann ich schon mit meiner Rente kaufen …«
    »Na dann nimm die für zweihundertfünfzigtausend«, sagte Dima ungeduldig. »Fünfzigtausend habe ich dir doch schon erlassen!«
    »Danke, danke, mein Söhnchen.«
    Die Alte zog ein Taschentuch aus der Manteltasche, faltete es auseinander, legte Geldscheine in Zehntausendern auf das Glas des Ladentisches und begann sie langsam zu zählen.
    Dima verdrehte die Augen zur Decke, dann sah er mich an.
    »Zweihundertdreißig …«, sagte die Alte, und dann fiel ihr plötzlich ein: »Ich habe noch Tausender, hier irgendwo in einer anderen Tasche …«
    »Schon gut!« Dima schrie fast. »Dann nimm sie eben für zweihundertunddreißig!«
    Und er händigte ihr die Wasserpistole aus, wie man früher den jungen Leuten bei ihrer Volljährigkeit den sowjetischen Paß ausgehändigt hatte.
    »Danke, danke, mein Söhnchen«, murmelte die Alte, als sie schon halb draußen war. »Na endlich!« seufzte Dima. »Was gibt es bei dir?«
    Ich zückte das Päckchen mit den Dollar und überreichte es ihm fast genau so, wie er der Alten die Wasserpistole übergeben hatte.
    »Das sind fünfhundertfünfzig. Mit den Prozenten …«, sagte ich. Dima seufzte wieder. Offensichtlich gefiel ihm mein Ton nicht.
    »Hör zu«, sagte er. »Bist du nach gestern noch nicht zu dir gekommen? Du mußt einen gegen den Kater kippen. Und im übrigen schuldest du mir weniger.«
    »Wieso weniger?«
    Dima wiegte den Kopf und lächelte normal, menschlich. Aufgrund dieses Lächelns überkam mich gleich ein peinliches Gefühl, obwohl ich nicht verstand, was ich falsch gemacht hatte.
    »Paß auf!« sagte Dima. »Vierhundertfünfzig bist du mir schuldig.«
    Ich nickte.
    »Da bleiben dir noch fünfhundertfünfzig. Und von dem Geld zehn Prozent für mich. Verstehst
    du?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    Dima räusperte sich.
    »Ich war immer gegen eine Doppelbesteuerung«, sagte er.
    Dann zog er unter dem Ladentisch eine angefangene Flasche ungarischen ›Palinka‹ und zwei Kristallgläser hervor und schenkte uns ein.
    »Was hast du, bist du beleidigt?« fragte er und sah mir direkt in die Augen.
    »Nein. In letzter Zeit ist mit mir irgendwas nicht in Ordnung. Entschuldige.«
    »Na komm«, er hob sein Glas hoch. »Auf daß alles bei dir in Ordnung kommt.«
    Wir tranken, und ich fühlte, wie in meinem Innern Ruhe einkehrte. Noch nie hatte ich so deutlich eine innere Veränderung gespürt wie an diesem Tag.
    »Willst du einen Rat von mir?« fragte Dima. »Du hast jetzt Knete. Die mußt du in Umlauf bringen. Du hast ja nicht vor, gleich morgen zu sterben, und zum Leben brauchst du immer Knete. Kapierst du? Es gibt verschiedene Varianten. Die einfachste ist, das Geld mit monatlichen Prozenten anzulegen. Nur bloß nicht in diese Trusts oder Fonds, die hauen nach einem Monat mit deiner Knete ab. Es gibt da Leute, und ich kann dich mit ihnen bekannt machen, normale Leute. Sie nehmen deine Knete, geben dir monatlich zehn Prozent, und sie selber verpfänden es Grünschnäbeln in der Immobilienbranche gegen eine Sicherheit von fünfzehn Prozent. Kapierst du? Wenn der Kerl die

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