Ein froehliches Begraebnis
Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit.« (Paulus an die Korinther, 1,23)) « Die Fähigkeit, elegant und schnell zu reagieren, hatte Alik noch nicht eingebüßt, trotz der dumpfen Versteinerung, die er im Körper kaum noch spürte, seit ein paar Tagen aber im Gesicht wahrnahm.
»Und warum glauben Sie, ein Rabbi müsse die Texte Ihres Apostels kennen?« fragte Menasche mit hellen, freudig leuchtenden Augen.
»Gibt es denn etwas, das ein Rabbi nicht kennt?« parierte Alik.
Sie stellten einander Fragen, ohne Antworten zu bekommen, wie in einem jüdischen Witz, aber sie verstanden sich weit besser, als man eigentlich annehmen sollte. Sie hatten nichts gemeinsam, weder in ihrer Erziehung noch in ihrer Lebenserfahrung. Sie aßen verschiedene Speisen, sprachen verschiedene Sprachen, lasen verschiedene Bücher. Beide waren sie gebildet, aber ihre Wissensgebiete hatten kaum Berührungspunkte. Alik wußte nichts über den Kalam, die islamische scholastische Theologie, mit der sich Reb Menasche seit zwanzig Jahren beschäftigte, und nichts von Gaon Saadja, dessen Werke der Rabbi in all diesen Jahren unermüdlich kommentierte, und der Rabbi hatte noch nie etwas gehört von Malewitsch, von Chirico, von. . .
»Was denn, gibt es außer einem Rabbi niemanden mehr, bei dem Sie Rat holen können?« fragte Reb Menasche mit stolzer und komischer Bescheidenheit.
»Warum soll sich denn ein Jude vor dem Tod nicht Rat holen bei einem Rabbi?«
Dieser scherzhafte Dialog war tiefer als seine Oberfläche; beide wußten das, und mit ihren unsinnigen Fragen tasteten sie sich an das Wichtigste heran, was zwischen Menschen geschieht, an die Berührung, die eine unauslöschliche Spur hinterläßt.
»Die Frau tut mir leid. Sie weint. Was soll ich tun, Rabbi?« seufzte Alik.
Der Rabbi hörte auf zu lächeln, nun war sein Augenblick gekommen.
»Ailik!« Er rieb sich den Nasenrücken und bewegte seine riesigen Schuhe. »Ailik! Ich lebe fast ausschließlich in Israel. Ich bin zum erstenmal in Amerika. Ich bin jetzt drei Monate hier. Ich bin erschüttert. Ich befasse mich mit Philosophie. Mit jüdischer Philosophie, und das ist etwas ganz Besonderes. Für den Juden ist die Grundlage für alles die Thora. Wenn er die Thora nicht liest, ist er kein Jude. Im Altertum gab es bei uns den Begriff »gefangene Kinder ‹ . Wenn jüdische Kinder in Gefangenschaft geraten und ohne Thora sind, ohne jüdische Erziehung und Bildung, dann sind sie nicht schuld an diesem Unglück. Sie nehmen es vielleicht nicht einmal wahr. Aber die jüdische Welt ist verpflichtet, die Sorge um diese Waisenkinder auf sich zu nehmen, selbst wenn sie schon in vorgerücktem Alter sind.
Hier in Amerika habe ich eine ganze Welt gesehen aus »gefangenen Kindern ‹ . Millionen Juden sind in der Gefangenschaft der Heiden. Die Geschichte der Juden hat solche Zeiten noch nie gekannt, weder vor der Zerstörung des Tempels noch in der talmudischen Epoche. Immer gab es Abtrünnige und gewaltsam Getaufte, und gefangene Kinder gab es nicht nur unter der Herrschaft Babylons. Aber heute, im zwanzigsten Jahrhundert, gibt es mehr gefangene Kinder als eigentliche Juden. Das ist ein Prozeß. Und wenn es ein Prozeß ist, dann liegt darin Gottes Wille. Darüber denke ich die ganze Zeit nach. Und werde noch lange darüber nachdenken.
Und Sie reden von Taufe! Also von den gefangenen Kindern ‹ zu den Abtrünnigen? Andererseits kann man Sie gar nicht als Abtrünnigen bezeichnen, denn strenggenommen sind Sie ja gar kein Jude. Und letzteres ist schlimmer als das erste, das würde ich dazu sagen. Aber ich sage Ihnen noch etwas, wieder andererseits: Ich hatte im Grunde nie eine Wahl.«
Interessant, der hatte auch keine Wahl. Warum hatte ich immer die Wahl, einen ganzen Arsch voll, dachte Alik.
»Ich bin als Jude geboren«, Menasche schüttelte seine üppigen Peies, »das war ich von Anfang an, und das werde ich bleiben bis an mein Ende. Ich habe es leicht. Sie haben die Wahl. Sie können ein Niemand sein, denn das bedeutet für meine Begriffe Heide sein, oder Sie könnten Jude werden, wofür Sie die beste Voraussetzung haben: Ihr Blut. Aber Sie können auch Christ werden, also, wie ich es auffasse, die Brosamen auflesen, die vom jüdischen Tisch gefallen sind. Dabei will ich gar nicht sagen, ob diese Brosamen gut sind oder schlecht, ich sage nur, das Gewürz, das die Geschichte ihnen beigemengt hat, war sehr zweifelhaft. . . Und wenn wir ganz offen sind: Ist die christliche
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