Ein ganzes halbes Jahr
Hände eines lebendigen Menschen, der viel klüger und witziger war, als ich es je sein würde, und der doch keine bessere Zukunft für sich sehen konnte, als sich umzubringen. Und dann, den Kopf ins Kissen gedrückt, weinte ich, weil mein Leben auf einmal so viel düsterer und komplizierter zu sein schien, als ich es mir je hätte vorstellen können, und ich wünschte mir, ich könnte die Uhr zurückdrehen, zurück bis zu der Zeit, in der meine größte Sorge gewesen war, ob Frank und ich genügend Rosinenschnecken bestellt hatten.
Es klopfte.
Ich putzte mir die Nase. «Verpiss dich, Katrina.»
«Es tut mir leid.»
Ich starrte zur Tür.
Ihre Stimme klang, als würde sie durchs Schlüsselloch sprechen. «Ich hab Wein. Jetzt komm schon, lass mich rein, sonst hört Mum mich noch. Ich habe zwei Becher unter dem Pullover, und du weißt, wie sauer sie wird, wenn sie mitbekommt, dass wir oben was trinken.»
Ich stand vom Bett auf und öffnete die Tür.
Sie betrachtete mein tränenverschmiertes Gesicht und zog schnell die Tür hinter sich zu. «Okay», sagte sie, schraubte den Verschluss von der Flasche und goss mir Wein in einen Becher. «Was ist wirklich passiert?»
Ich sah meine Schwester eindringlich an. «Du darfst niemandem ein Wort von dem sagen, was ich dir erzähle. Auch nicht Dad. Und Mum schon gar nicht.»
Dann erzählte ich es ihr.
Ich musste es einfach loswerden.
Es gab viele Gründe, weshalb ich meine Schwester nicht leiden konnte. Ein paar Jahre zuvor hatte ich noch ganze Listen zu diesem Thema geschrieben. Ich hasste sie für die Tatsache, dass sie dickes, glattes Haar hatte, während meins sofort splisst, wenn es mehr als schulterlang ist. Ich hasste sie für die Tatsache, dass man ihr nie etwas erzählen konnte, was sie nicht schon wusste. Ich hasste es, dass mir meine Lehrer während meiner gesamten Schulzeit mit gesenkter Stimme berichteten, wie intelligent sie sei, als ob ihre Klugheit bedeutete, dass ich automatisch in ihrem Schatten stand. Ich hasste sie für die Tatsache, dass ich mit sechsundzwanzig Jahren in einer Abstellkammer in einer Doppelhaushälfte wohnen musste, damit sie und ihr unehelicher Sohn das größere Schlafzimmer haben konnten. Aber ab und zu war ich auch richtig froh, dass sie meine Schwester war.
Katrina schrie nicht entsetzt auf. Sie starrte mich nicht schockiert an, und sie verlangte nicht, dass ich es Mum und Dad erzählte. Sie sagte sogar kein einziges Mal, dass es falsch gewesen war, dort wegzugehen.
Sie trank einen großen Schluck Wein. «Mannomann.»
«Genau.»
«Noch dazu ist es legal. Sie könnten ihn gar nicht daran hindern.»
«Ich weiß.»
«Verdammt. Ich kann es immer noch nicht fassen.»
Wir hatten zwei Becher geleert, während ich erzählte, und langsam stieg mir der Wein zu Kopf. «Ich will überhaupt nicht von ihm weg. Aber ich kann da nicht mitmachen, Treen. Ich kann einfach nicht.»
«Mmm.» Sie dachte nach. Meine Schwester hat ein richtiges ‹Denkgesicht›. Wenn sie dieses Gesicht aufsetzt, warten die Leute ab, bevor sie etwas zu ihr sagen. Dad sagt, mein Denkgesicht sähe aus, als müsste ich dringend mal.
«Ich weiß nicht, was ich machen soll», sagte ich.
Sie sah mich an, und auf einmal erhellte sich ihre Miene. «Das ist doch ganz einfach.»
«Einfach.»
Sie schenkte uns nach. «Oh. Wir haben die Flasche schon leer gemacht. Ja. Einfach. Sie haben doch Geld, oder?»
«Ich will ihr Geld nicht. Sie hat mir eine Gehaltserhöhung angeboten. Darum geht es nicht.»
«Scht. Halt die Klappe. Das Geld ist nicht für dich, du Hirni. Sie haben also Geld. Und er hat vermutlich einen Riesenhaufen Schotter von der Versicherung des Unfallverursachers bekommen. Tja, du sagst ihnen, du willst ein Budget, und dann setzt du dieses Geld ein, und du nutzt die – wie lange war es noch? – vier Monate, die noch übrig sind. Und in dieser Zeit stimmst du Will Traynor um.»
«Wie bitte?»
«Du stimmst ihn um. Du hast gesagt, er verbringt die meiste Zeit im Haus, oder? Also fängst du mit etwas Kleinem an, und wenn du ihn erst einmal dazu gebracht hast, seine vier Wände zu verlassen, denkst du dir lauter tolle Sachen für ihn aus, alles Mögliche, durch das er seine Lebenslust wiederfinden könnte – Ausflüge, Fernreisen, Schwimmen mit Delfinen, egal –, und dann setzt du die Ideen in die Tat um. Ich helfe dir. Ich gehe in die Bibliothek und recherchiere für dich im Internet. Ich wette, uns fallen ein paar sagenhafte Unternehmungen für ihn
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