Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
«ja, und niemand trägt Schuld an ihrem Tod als das Schicksal.»
«Was für ein großes Wort, Friedrich. Schon Henriettas Geburt hat sie beinahe das Leben gekostet. Und dann hat sie sich vier Jahre lang nicht mehr erholt. Warum? Ich habe sechs Kinder geboren und lebe immer noch. Sechs Kinder», wiederholte sie, kaum mehr hörbar.
Er ließ sie ihren Worten nachlauschen. Wenn von sechs Kindern fünf lebten und gesund waren, von diesen wiederum nur eines die vorbestimmte, rechte Bahn verlassen hatte, musste man dankbar sein. Ihm war das gelungen.
Nun war er froh, dass Hetty seine Einladung, bei ihnen zu wohnen, nicht angenommen hatte. Lydia brauchte Zeit.
Claire kam mit eiligen Schritten die Stufen vom Garten herauf und ersparte ihm eine Antwort. Während Emma sich im Mittelpunkt, gar auf einem Podest am wohlsten fühlte, blieb Claire gerne am Rand. Sie verwandte wenig Mühe auf ihre Frisur und ihre Kleider, wohl war beides makellos, aber immer praktisch. In St. Gertrud war sie schon für die Frau des jüngsten Pastors gehalten worden, mehr war dazu nicht zu sagen. Natürlich besaß sie Kleider für jede, auch für pompöse Gelegenheiten wie den Besuch des Kaisers vor wenigen Wochen, niemand hatte denken können, die älteste Grootmann-Tochter sehe ärmlich oder im geringsten Maße unpassend aus. Claire war einfach eine uneitle, praktische Person, also gehörte sie zu den Frauen, die leicht übersehen wurden. Ob es sie kränkte, im Schatten ihrer schöneren Geschwister, besonders ihrer strahlenden Schwester Emma zu stehen, war nicht bekannt. Da auch Claires Gemüt von großer Unauffälligkeit zu sein schien, gab es nie Anlass zu solchen Überlegungen.
«Du bist noch hier, Papa?» Sie setzte sich ihm gegenüber, ließ sich von ihrer Mutter mit dankbarem Lächeln Rührei, gebratenen Speck und eine gesottene Tomate auftun und nahm eine Scheibe Toast. Sie habe schrecklichen Hunger, verkündete sie munter, wie gut, dass das Frühstück noch nicht abserviert sei. «Eigentlich ist es eine Schande», erklärte sie heiter, «der Anblick dieser armen Frauen, die morgens mit ihren Kindern in der Milchküche anstehen, müsste mir den Appetit verderben.»
Just in diesem Moment meldete das Mädchen Besuch. Lydias Brauen hoben sich wegen der unpassenden Stunde für jedweden, selbst verwandtschaftlichen Gast. Claire wandte sich neugierig zur Tür, und Friedrich Grootmann warf seine Serviette auf den Tisch und erhob sich.
«Herein mit ihm, Reni», sagte er, und an seine Frau und seine Tochter gewandt: «Das ist Blessing, wir fahren heute zusammen ins Kontor. Verzeih, Lydia. Ich habe vergessen, es dir zu sagen.»
Claire blickte ihren Vater erstaunt an. Ein solcher Fauxpas unterlief ihm für gewöhnlich nicht. Das erste Frühstück war der Familie vorbehalten, und jeder wusste, dass die Dame des Hauses diesen Mann aus dem Kontor nicht mochte. Allerdings wusste niemand, warum, womöglich nicht einmal sie selbst.
«Sei trotzdem so nett und biete ihm eine Tasse an. Ich brauche noch eine Minute. Blessing, wusste ich’s doch. Nehmen Sie Platz, meine Frau herrscht heute über den Tee. Für Toast wird die Zeit kaum reichen, ich bin gleich bereit.»
Raimund Blessing war fünfunddreißig Jahre alt, schlank mit den Schultern eines Ruderers und bis in die Wimpern sandblond, was durch den für Kontor und Börse einzig korrekten dunklen Anzug unterstrichen wurde. Nur sein bleistiftschmaler Schnurrbart war schwarz wie seine Kleidung. Im Kontor trug er einen Zwicker, der seinen kühl blickenden Augen etwas Erstauntes gab. Er war stets von gesunder Frische, heute lagen Schatten unter seinen Augen, im Kontor war viel zu tun. Er hielt sich sehr gerade, eine Angewohnheit seit seiner Militärzeit. Zu Beginn hatte ihn der unbarmherzige Drill wütend gemacht, bis er spürte, wie so ein ‹Stock im Rückgrat› sein Selbstbewusstsein stützte und in Gegenwart gesellschaftlicher oder tatsächlicher Autoritäten seine Würde im wahrsten Sinne des Wortes aufrecht hielt.
Blessing arbeitete seit einigen Jahren im Grootmann’schen Kontor und hatte kürzlich Prokura erhalten. Er war überaus tüchtig, zugleich korrekt und weitsichtig, wendig im Umgang mit Kundschaft, Handelspartnern oder Arbeitern. Friedrich Grootmann betrachtete ihn als unersetzlich, er schätzte ihn auch, weil er weder ein Schwätzer noch von aufdringlicher Unterwürfigkeit war. Sein Gedächtnis für alles, was die Grootmann’schen (und auch konkurrierende) Geschäfte betraf, war
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