Ein gefährlicher Gentleman
Gewöhnlich genoss er es geradezu. Das war so, seit sie fünf gewesen war und er acht. Aber jetzt runzelte er die Stirn. Gedankenverloren rieb er sein Kinn. »Irgendwas stimmt da nicht. Er ist so grüblerisch und distanziert.«
Distanziert. Da war das Wort wieder. Und es wurde ausgerechnet von Miles ins Spiel gebracht.
Sie konnte die Gelegenheiten, bei denen sie in letzter Zeit einer Meinung gewesen waren, an einer Hand abzählen. Sie wünschte, dieses Thema sei nicht eine dieser rühmlichen Ausnahmen. »Dir ist es also auch aufgefallen?«
»Gelegentlich«, knurrte er ironisch, »bin ich entgegen deiner abschätzigen Meinung über meinen Charakter durchaus in der Lage, meine Aufmerksamkeit dem Wohl anderer zu schenken und nicht nur meinen eigenen Interessen. Ja, mir ist es auch aufgefallen. Er ist abwesend, obwohl er sich viel Mühe gibt, den Anschein zu wahren. Ein schlechter Beobachter wird denken, er genießt weiterhin die Freizeitaktivitäten, die sich einem wohlhabenden, adeligen Gentleman bieten. Wenn ich einen Tipp abgeben sollte, würde ich behaupten, dass er nicht vorhatte, sich an der Wette zu beteiligen. Es passierte einfach, weil man davon ausging, er werde sich an so einem atemberaubenden Wetteinsatz beteiligen.«
Das war ein so verständnisvoller Vortrag, dass Elizabeth ihn überrascht musterte. »Du hast darüber ausgiebig nachgedacht. Und deine Interpretation ergibt immerhin einen gewissen Sinn.«
»Also, das ist jetzt wirklich furchterregend.« Ein Mundwinkel ihres Cousins zuckte, und seine dichten Wimpern senkten sich leicht über seine außergewöhnlich bernsteinfarbenen Augen. »Das letzte Mal, als wir so im Einklang waren, haben wir beschlossen, den brandneuen Phaeton deines Vaters für eine kleine Fahrt übers Land auszuleihen. Ich erinnere mich noch recht gut an das anschließende Desaster. Drei Tage lang konnte ich nicht mehr sitzen, weil man uns bei unserer Rückkehr erwischte. Mein Vater war außer sich vor Wut.«
Sie hatte sich damals ein wenig schuldig gefühlt, weil er für dieses kleine Abenteuer die Stockschläge hatte einstecken müssen, wohingegen man sie bloß in ihr Kinderzimmer verbannt hatte. »Du hättest eben nicht behaupten dürfen, dass es deine Idee war. Wir wussten beide, dass auch ich einen Teil an der Schuld trug.«
»Das war eben damals meine Vorstellung von Ritterlichkeit.« Er zuckte mit den Schultern. »Inzwischen bin ich älter und klüger, wie man so schön sagt. Die Antwort auf deine Frage ist daher ein Nein.«
Die Musik schwoll erneut an und erfüllte den Saal mit der Melodie eines beliebten Walzers. »Ich habe dich doch gar nichts gefragt«, murmelte sie und zupfte konzentriert an ihrem Handschuh.
Miles löste sich mit einer fließenden Bewegung von der Wand. »Du wolltest gerade vorschlagen, ich könne doch versuchen herauszufinden, von welchem Teufel Luke besessen ist.«
Das wollte sie tatsächlich gerade vorschlagen. Verflucht sollte er sein. »Überhaupt nicht«, behauptete Elizabeth kühl.
»Lügnerin.« Sein Grinsen blitzte auf, doch es schwand sogleich wieder. Er schüttelte den Kopf. »Frauen verstehen die Männer einfach nicht.«
»Warum um alles in der Welt sollten wir das auch?«, murmelte sie. »Könntest du vielleicht etwas genauer sein? Was verstehe ich denn in diesem Moment nicht?«
»Das werde ich nicht genauer ausführen. Verzeih, El. Wenn er darüber reden möchte, bringt er das Thema irgendwann selbst zur Sprache. Es geht mich nichts an, und dich übrigens auch nicht, wenn irgendwas mit ihm nicht stimmt.«
»Verzeih mir, wenn ich mir um meinen Bruder Sorgen mache.«
Er kannte diesen trotzigen Zug um ihren zarten Mund. Miles Hawthorne unterdrückte stumm einen Fluch und widerstand dem Drang, Elizabeths schmale Schultern zu packen und sie durch die französischen Türen nach draußen auf die Terrasse zu führen, um ihr dort mit möglichst einfachen Worten zu erklären, wie wenig es der durchschnittliche Mann mochte, wenn eine Frau sich in sein Leben einmischte.
Oder er zerrte sie nach draußen und machte etwas völlig anderes mit ihr. Ein leidenschaftlicher Kuss käme ihm da in den Sinn. Das passierte ihm in letzter Zeit ziemlich häufig, wenn er sich in Elizabeths Gegenwart aufhielt.
Wenn sie tatsächlich Cousins wären, wäre das nie passiert. Aber seit er alt genug war, um die genauen Umstände zu begreifen, wusste er, dass sie nicht verwandt waren. Seine verwitwete Mutter hatte den Cousin von Elizabeths Vater erst einige Jahre
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