Ein gefährlicher Gentleman
wollte sein Revier nicht abstecken. Er wollte nur die ungezwungene Ablenkung genießen, die sie ihm bot.
Immerhin wollte er sie jetzt sehen.
»Natürlich, Mylady.«
Sie wünschte sich, zu dieser späten Stunde etwas anderes als ihr langweiliges Tageskleid aus Musselin zu tragen. Sie hielt sich gewöhnlich nicht damit auf, sich fürs Dinner umzuziehen, wenn sie es allein einnahm. So hatte sie lediglich ein Tablett mit Speisen in ihr kleines Wohnzimmer im oberen Stockwerk mitgenommen. Nachdem ihr Sohn gebadet hatte, las sie ihm vor, sein kleiner, warmer Körper dicht an ihren geschmiegt, während er langsam wegdämmerte. Trevor rührte sich nur noch einmal, als sie ihm die Stelle vorlas, an der der Drache vom Himmel herabstieß, um die in Not geratene Maid zu retten. Er war vom Drachen fasziniert, nicht von der Maid. Für Madeline bestand kein Zweifel, dass sich das schon bald ändern würde.
»Du gehst nicht aus.« Die vier Worte waren eine Feststellung, keine Frage. Luke betrat den Raum. Er sah in dem eleganten, dunklen Abendanzug schlicht überwältigend aus. Er musterte ihr eher ungezwungenes Kleid. In seinem Blick lag weder Zustimmung noch Missbilligung. »Willst du damit möglichen Gerüchten aus dem Weg gehen?«
»Nein«, konnte sie ehrlich zugeben. » Gibt es denn Gerüchte?«
»Ein paar.« Er schaute nachdenklich auf den neuen Teppich. »Wie ich sehe, wurden alle Beweise für Lord Fitchs unglückliches Missgeschick entfernt.«
»Naja, ich konnte ihn wohl kaum da liegen lassen, findest du nicht?« Madeline nickte zu einem Stuhl. »Bitte, setz dich doch. Ich lasse uns Wein kommen.«
Er verzog den Mund zu einem Grinsen, doch er nahm im Armstuhl gegenüber vom Schreibtisch Platz. »Was lässt dich vermuten, dass ich bleibe?«
Trotz der Frage wusste sie, dass er blieb. In seinem Blick lag etwas sehr Intensives. Und Luke Daudet kam nicht einfach vorbei. »Du machst selten etwas ohne triftigen Grund, Mylord.«
»Das versuche ich zumindest.« Er schmunzelte. »Und du kennst mich inzwischen so gut?«
»Einiges von dir sogar sehr gut.« Madeline erwiderte das Lächeln. Sie freute sich über seine Anwesenheit. Sein langgliedriger Körper schien in diesen Stuhl zu passen. Als gehörte er schon zu ihrem Haus. Das Licht der Lampe ließ sein dunkelblondes Haar erstrahlen.
Leise fügte sie hinzu: »Anderes nicht so gut, aber ich lerne allmählich dazu.«
Luke lehnte sich zurück. Er kreuzte die Füße. »Was glaubst du: Was denke ich gerade?«
»Ich habe ja schon gesagt, so gut kenne ich dich nicht.«
»Vielleicht weißt du es trotzdem«, sagte er betont leise. »Besser als ich selbst vermutlich.«
In diesem winzigen Augenblick hatte sich das Wesen ihrer Unterhaltung verändert.
Denn mit diesen Worten wollte er ihr sagen, dass er nicht wusste, warum er hergekommen war. Er war einfach da, weil er ihr nicht fernbleiben konnte. Ihr Herz flatterte. »Darf ich eine Vermutung anstellen? Vermutlich hat dich derselbe Impuls hergebracht, der mich gestern Abend Hals über Kopf das Dinner bei den Masters hat verlassen lassen.«
»Du kannst gerne …« Er verstummte, da Hubert in diesem Moment mit einem Silbertablett hereinkam, auf dem Gläser und ein Dekanter standen.
Sobald der Wein eingeschenkt und der Diener verschwunden war, vollendete er den Satz. »… so viele Vermutungen anstellen, wie du willst. Ich bin für jede Interpretation unserer Handlungen offen, Madge.«
Die Art, wie er »unserer« sagte, gefiel ihr. Als teilten sie mehr als eine flüchtige Leidenschaft. »Ich bin nicht sicher, wie ich unser spezielles Leiden nennen soll, Mylord. Aber darf ich wohl anmerken, wie glücklich ich bin, dass du heute Abend hergekommen bist?«
»Ich liebe es, wenn du deine Stimme um diese winzige Nuance senkst«, murmelte er. Sein Blick huschte umher, bis er das Tagebuch auf dem Schreibtisch entdeckte. »Wie ich sehe, hast du beschlossen, es zu lesen.«
In dem schlichten, elfenbeinfarbenen Musselinkleid mit grünen Bändern sah sie einfach hinreißend aus. Einzelne Strähnen ihres hellen Haars waren der Frisur entwischt und umspielten ihr Gesicht. Unter ihren Augen lagen leichte Schatten, weil er sie fast die ganze letzte Nacht wachgehalten hatte. Madeline folgte seinem Blick auf das Tagebuch ihres Gatten. Das Lächeln wich aus ihrem Gesicht. »Ich dachte, das sollte ich besser tun.«
»Weil Wissen Macht ist«, stimmte er zu. »Obwohl ich sicher bin, dass dein Gatte ein guter Mann war, weil du ihn sonst nicht so innig
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