Ein Gentleman wagt - und gewinnt
Außerdem – konnte sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren, ein armes, unglückliches Mädchen diesem zügellosen Wüstling auszuliefern, wenn sie Kitty half, deren Bruder vor den Traualtar zu dirigieren?
“Oh, was für eine angenehme Überraschung, Miss Graham!”
Wie erstarrt blieb sie stehen, als die vertraute, tiefe Stimme sie aus ihren beklemmenden Gedanken riss. Hätte sie Barton und seine Schwester etwas früher entdeckt, wäre sie sofort umgekehrt, um eine Begegnung zu vermeiden. Doch nun musste sie wohl oder übel Freude über diesen “Zufall” heucheln. Was Kitty anging, fiel ihr das nicht schwer, obwohl sie so gut wie sicher war, dass sie sich nicht in die kupplerischen Machenschaften des Mädchens verwickeln lassen wollte.
“Tatsächlich, eine Überraschung, Sir.” Sie musste nicht einmal lügen, denn sie hatte nicht erwartet, dass Barton seine Schwester begleiten würde. “Natürlich weiß ich um Ihre Vorliebe für körperliche Aktivitäten an der frischen Luft. Indes hätte ich nicht gedacht, dass auch Spaziergänge im Park dazugehören.”
In seinen Augen erschien ein herausfordernder Glanz. “So gut kennen Sie mich nicht, Miss Graham –
noch
nicht. Aber das lässt sich mühelos ändern. Eugenie wird Ihnen und Ihrer Patentante eine etwas verspätete Einladung zu unserer Soiree nächste Woche schicken. Hoffentlich machen Sie uns die Freude und nehmen daran teil.”
“Oh ja, bitte!”, meldete sich Kitty zu Wort, als Abbie zögerte. “Sicher werden Sie sich großartig amüsieren.”
“Daran zweifle ich nicht”, beteuerte Abigail. “Doch ich kann keine Zusage geben, ohne mit Lady Penrose darüber zu sprechen. Vielleicht hat sie andere Pläne.”
“Gewiss, das müssen Sie berücksichtigen”, bestätigte Barton, bevor seine Schwester die arme Miss Graham erneut bedrängen konnte. “Und es wäre wundervoll, wenn Sie uns heute Nachmittag in dieser idyllischen Umgebung mit Ihrer Gesellschaft beglücken würden.”
Unschlüssig wandte Abigail sich zu ihrer Dienerin um, die ein paar Schritte entfernt wartete. Sollte sie die Anwesenheit des Mädchens zum Vorwand nehmen und erklären, sie müsse leider heimkehren, da die junge Frau im Haushalt gebraucht würde?
Offenbar konnte Barton ihre Gedanken lesen. “Meine Schwester und ich werden Sie wohlbehalten zu Lady Penrose bringen. Also brauchen Sie keine Begleitung mehr.”
Schon wieder musterte er sie herausfordernd, als wolle er sie zu einem Widerspruch veranlassen. Indes mochte sie nicht den Eindruck erwecken, dass er sie in irgendeiner Weise beunruhigen konnte. Wenn sich seine und ihre Wege in den nächsten Wochen kreuzten, würde sie stets höfliche Gleichgültigkeit an den Tag legen. Zudem war seine Anwesenheit sogar ein Segen, denn sie verhinderte, dass seine Schwester das Thema seiner Heirat anschnitt. Und so würde Abbie Zeit gewinnen, um zu entscheiden, ob sie Kitty bei ihrem Vorhaben helfen sollte.
Wie sich herausstellte, hatte sie den Einfallsreichtum ihrer neuen Freundin unterschätzt. Sobald Abigail das Dienstmädchen nach Hause geschickt hatte und neben den Geschwistern dahinschlenderte, schlug Kitty vor: “Wäre es nicht großartig, ein Picknick zu arrangieren?” Unschuldig lächelte sie ihren Bruder an. “Dazu könnten wir einige unserer Freunde einladen. Werden Sie auch kommen, Abbie?”
Von einem forschenden braunen Augenpaar beobachtet, suchte Abigail verwirrt nach Worten. “Nun, ich weiß nicht …”
“Vielleicht glaubt Miss Graham, für einen solchen Zeitvertreib sei sie zu alt, Kitty”, bemerkte Barton. Erbost starrte Abbie ihn an und bemerkte, wie er seinen Lachreiz bekämpfte. “Nach meiner Erfahrung halten sich Damen, die in die Jahre gekommen sind, nicht mehr gern im Freien auf. Stattdessen bevorzugen sie Beschäftigungen in ihren vier Wänden – Nähen, Lesen, Marmelade einkochen … Dergleichen strengt sie weniger an.”
“Um Gottes willen, so alt ist Abbie doch gar nicht!”, rief Kitty. Anscheinend war sie überzeugt, dass ihr Bruder diesen Unsinn ernst meinte.
“Nein, wirklich nicht”, bekräftigte Abbie, bevor Barton den Protest seiner Schwester mit weiteren schlechten Scherzen beantworten konnte. “Und ein Picknick wäre eine angenehme Abwechslung – nach all den Häubchen, die ich in letzter Zeit genäht habe.”
Im Gegensatz zu ihrem Bruder, dessen Mundwinkel verräterisch zuckten, hielt Kitty entsetzt den Atem an. “Sie tragen Häubchen, Abbie?”
“Nur wenn ich mein
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