Ein Gentleman wagt - und gewinnt
sogar erschreckt.
Allerdings schnitt er das Thema nicht an. Im Erdgeschoss führte sie ihn in den Salon, wo er ans Fenster trat und erklärte, er finde seinen Aufenthalt in dieser Stadt viel angenehmer, als er es erwartet habe.
Was wollte er ihr damit zu verstehen geben? Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn in diesem Moment erklangen schwere Schritte in der Halle, und Sekunden später erschien ein großer, kräftig gebauter, etwa zwanzigjähriger Bursche mit klaren blauen Augen und zerzaustem blonden Haar auf der Schwelle.
Barton stellte sich an Abbies Seite und musterte ihn. “Stehen Sie nicht so stocksteif da, mein Junge. Kommen Sie herein, und schließen Sie die Tür.”
Der Mann gehorchte. Unsicher senkte er den Kopf und knetete einen abgewetzten Hut zwischen seinen schwieligen Händen.
“Wie ich höre, suchen Sie Arbeit?”
“Aye, Sir, das stimmt.”
“Nach Ihrem Akzent zu schließen, stammen Sie nicht aus dieser Region.”
“Nein, Sir, ich bin in Yorkshire geboren und aufgewachsen, nicht weit von Kexby entfernt.”
“Kexby?”, wiederholte Abbie. “Welch ein Zufall! In der Nähe von Kexby lebt einer meiner Verwandten, Sir Montague Graham.”
“Tatsächlich, Miss?” Grinsend wandte sich der junge Mann zu ihr. “Auf dem Graham-Landgut bin ich groß geworden, und mein Pa war da beschäftigt, bis er vor ein paar Jahren starb.”
“Hat Sir Montague Sie nicht eingestellt?”
“Nein, Miss. Seit ich acht Jahre alt war, habe ich für Mr. Remington gearbeitet, einen Nachbarn.”
Barton hob die Brauen. “Warum sind Sie von dort fortgegangen?” Seine Frage war berechtigt, denn aller Erfahrung nach blieben die Leute vom Lande, auch wenn sie neue Arbeit suchten, meistens in ihrer Heimat.
“Also, das war so, Sir … Mr. Remington wurde krank. Da er keine Kinder hat, soll sein Landsitz verkauft werden, wenn er stirbt. Er war immer gut zu mir, und er machte sich Gedanken über meine Zukunft. Eines Tages sagte er mir, er könnte nicht versprechen, dass der neue Besitzer mich behalten wird.”
“Ah, ich verstehe … Übrigens, wie heißen Sie?”
“Arkwright, Sir. Josh Arkwright.”
“Und was hat Sie so weit in den Westen geführt, Josh?”, erkundigte sich Abbie. Sie fand den jungen Mann sehr sympathisch und war überzeugt, dass er sich zu ihrem persönlichen Reitknecht eignete.
“Mr. Remington wollte seine Lieblingsstute nach seinem Tod gut versorgt wissen. Deshalb hat er mich beauftragt, sie zu einem alten Freund zu bringen, der hier in der Nähe lebt, nur ein paar Meilen weiter südlich.”
“Wie heißt dieser Freund?”, fragte Barton.
“Mr. Diggory, Sir. Mr. Remington hat ihm geschrieben und ihn gebeten, mich einzustellen. Aber Mr. Diggory erklärte, das sei unmöglich. In diesen schweren Zeiten könne er sich keine zusätzlichen Dienstboten leisten. Er empfahl mir, ich solle mein Glück in den größeren Städten versuchen – in Bath oder Bristol. Nun ja, wenn’s nicht klappt, muss ich wohl oder übel nach Yorkshire zurückkehren.”
“Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie das vermeiden wollen?”, hakte Barton nach.
“Ich habe dort niemanden mehr, Sir. Meine Familie ist tot, abgesehen von einer Schwester, die einen Spinnereiarbeiter geheiratet hat und in Halifax wohnt. Und vielleicht ist Mr. Remington mittlerweile gestorben. Er gab mir einen Vierteljahreslohn im Voraus – daher habe ich genug Geld für die Heimreise. Allerdings würde ich lieber hierbleiben.”
“Ist Ihnen bewusst, dass diese Stellung nur vorübergehend wäre? Bis der Stallbursche wieder gesund ist?”
“Aye, Sir. Aber in der Zwischenzeit könnte ich mich nach was anderem umsehen.”
“Haben Sie den Brief, den Ihr ehemaliger Arbeitgeber an Mr. Diggory geschrieben hat, noch?”
“Nein, leider nicht, Sir.”
Abbie brauchte keine Referenzen, denn ihr Entschluss stand bereits fest. Lächelnd forderte sie den jungen Mann auf, in den Stall zu gehen und seine Pflichten unverzüglich zu übernehmen.
“Nun, hoffentlich werden Sie Ihre menschenfreundliche Tat nicht irgendwann bedauern, Miss Graham”, warnte Barton, sobald ein freudestrahlender Josh den Salon verlassen hatte.
“Warum? Der Mann macht einen ehrlichen Eindruck, und ich mag ihn.”
“Nicht immer entsprechen die Menschen dem Anschein, den sie erwecken.”
“So naiv, wie Sie offenbar glauben, bin ich nicht, Mr. Cavanagh, und ich weiß sehr gut, dass eine einnehmende Fassade eine schwarze Seele verbergen kann”, entgegnete
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