Ein Gentleman wagt - und gewinnt
sie und wandte sich zur Tür. Allerdings nicht, ohne Bartons nachdenkliche Miene bemerkt zu haben …
4. KAPITEL
M it gemischten Gefühlen betrachtete Abigail den wolkenlosen Junihimmel, als sie am Morgen des Picknicks erwachte. Einerseits freute sie sich auf den Ausflug ins Grüne, andererseits missfiel ihr die Aussicht, mehrere Stunden in der Gesellschaft eines Mannes zu verbringen, den sie für einen niederträchtigen Schürzenjäger hielt – und der in letzter Zeit viel zu oft ihre Gedanken beherrschte.
Gewiss, sie war Barton dankbar für seine Unterstützung bei dem Einstellungsgespräch mit Josh. Trotzdem sah sie keinen Grund, ihre Meinung über ihn zu ändern – oder sich zu fragen, ob sie seinen Charakter zu streng beurteilte. Wozu er fähig war, wusste sie. Großer Gott, hatte sie es nicht mit eigenen Augen beobachtet?
Zu ihrer Verwunderung trat einen Moment später die Zofe ihrer Patentante ins Schlafzimmer und nicht das junge Mädchen, das Abbie normalerweise bediente. “Stimmt etwas nicht?”
“Alles in Ordnung, Miss”, versicherte die Bedienstete. “Aber heute möchte ich mich selber um Sie kümmern, nachdem ich meiner Herrin bereits beim Ankleiden geholfen habe.”
“Ist sie etwa schon fertig?”, fragte Abigail erstaunt.
“Oh ja, sie frühstückt gerade. Und sie ist ganz aus dem Häuschen vor lauter Aufregung. Wie ein Kind freut sie sich auf heute Vormittag. Wirklich, Miss Abbie, Ihre Anwesenheit tut ihr richtig gut. Sie hat sich wieder angewöhnt, zeitig aufzustehen, weil sie mit Ihnen am Frühstückstisch sitzen will. Sie geht öfter zu Fuß, statt die Kutsche zu bestellen. Und jetzt dieses Picknick!”
“Ich war selber überrascht, als sie Mr. Cavanaghs Einladung annahm. Und sie möchte auch die Soiree seiner Stiefmutter besuchen.”
“Unter uns gesagt, Miss …” Die Zofe stellte einen Wasserkrug auf den Waschtisch. “Ihre Ladyschaft hat eine Schwäche für willensstarke Männer. Und dieser Mr. Cavanagh kommt mir wie ein Gentleman vor, der sich zu behaupten weiß.”
“Gewiss, er ist sehr energisch”, musste Abbie zugeben. “Und zufällig war er gerade da, als meine Patentante den Rat eines fachkundigen Mannes brauchte.”
“Schade, dass Josh nicht bei uns bleiben wird …” Miss Felcham nahm ein neues burgunderrotes Musselinkleid aus dem Schrank und legte es sorgfältig über eine Sessellehne. “So ein netter, höflicher Bursche! Und tüchtig. Zweifellos hat er mehr im Oberstübchen als Jenkins und Jem zusammen.”
“Das werde ich erst beurteilen können, wenn ich gesehen habe, wie er mit Tante Henriettas Chaise umgeht”, erwiderte Abigail und begann sich zu waschen. “Ich glaube, Jenkins hat ihm aufgetragen, uns zum Picknick zu fahren.”
Eine halbe Stunde später betrat sie das Frühstückszimmer und fand Lady Penrose vor, die bester Laune schien und in der Zeitung blätterte. “Ah, guten Morgen, mein Liebes. Unfassbar – der Mann muss den Verstand verloren haben! Wie kann er ein solch loses Frauenzimmer heiraten!”
“Liest du wieder die Klatschspalte, Tante?”, fragte Abbie und setzte sich an den Tisch. “Welche Sensation hat dein Interesse erregt?”
“Lord Soames, dieser Narr, hat die Dowager Lady Fitzpatrick um ihre Hand gebeten. Obwohl sie halb so alt ist wie er – und furchtbar leichtfertig!”
Klirrend fiel Abbies Messer auf ihren Teller, und Lady Penrose hob erstaunt den Kopf.
“Du bist ja ganz blass. Fühlst du dich nicht gut?”
“Doch …” Mühsam rang Abbie nach Fassung. “Es ist nur … Zufällig kenne ich die Dame. Der Besitz der Fitzpatricks grenzt an Foxhunter Grange.”
“Ja, natürlich! Das hatte ich ganz vergessen. Erst seit einem guten Jahr liegt Sir Oswald Fitzpatrick unter der Erde, und seine Witwe hat schon wieder einen dummen alten Kerl eingefangen. Nun, das passt zu ihr. Mit achtzehn vermählte sie sich mit Sir Oswald, der ihr Vater hätte sein können. Sein Sohn aus erster Ehe ist lediglich ein Jahr jünger als Sophia. Offenbar bevorzugt sie senile Gatten und blutjunge Bettgenossen. Falls die Gerüchte stimmen, sammelt sie Liebhaber wie andere Leute Mokkatassen.”
Abigail hörte nur mit halbem Ohr zu. In ihrer Fantasie erschienen Bilder, die sie vergessen wollte – Erinnerungen an jene Wanderung zum Sommerhäuschen, der wenige Stunden später ein unerwarteter Heiratsantrag gefolgt war. Wie gedemütigt hatte sie sich damals gefühlt … Vor ihrem geistigen Auge sah sie Barton Cavanagh, der lächelnd versucht hatte,
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