Ein Gentleman wagt - und gewinnt
sei als ich, nicht schlagen. Die Missachtung, mit der mein Onkel und meine Tante mich straften, nachdem ich mich an ihrem kostbaren Sohn vergriffen hatte, erschwerte meine Lage noch zusätzlich. Deshalb flüchtete ich zu Ihrem Großvater. Wie so oft, wenn ich Schwierigkeiten daheim hatte …” Er schüttelte wehmütig den Kopf, als schämte er sich für den Verlust seiner Selbstkontrolle. “Es war mein letzter Besuch auf Foxhunter Grange. Kurz danach meldete ich mich zum Kriegsdienst.”
Abbie starrte die Diamantennadel in seinem Krawattentuch an. Als würde sie jenen Sommer jemals vergessen, der ihr Leben derart einschneidend verändert hatte …
Bevor die Walzerklänge verhallten, schaffte sie es irgendwie, die bösen Erinnerungen zu verdrängen. Das wäre weniger mühsam gewesen, hätte ein gewisser weiblicher Gast kein so lebhaftes Interesse an Barton gezeigt.
Sie kannte Mrs. Drusilla Herbert. Seit ihrer Ankunft in Bath war sie ihr bei zwei oder drei Gelegenheiten begegnet. Auch ihrem griesgrämigen Ehemann, der die Dame überallhin begleitete.
Aber erst an diesem Abend fiel ihr die Ähnlichkeit zwischen Mrs. Herbert und Sir Oswald Fitzpatricks leichtfertiger Witwe auf – blondes Haar, blaue Augen, die gleichen vollen Lippen und üppigen Rundungen. Vielleicht bevorzugen die beiden Liebhaber, die denselben Typ verkörpern, dachte sie bedrückt, als Barton sich zu der Frau umwandte, die sich bei ihm eingehakt hatte und einladend ihren prallen Busen gegen seinen Ärmel presste. Entschlossen ignorierte Abbie den bitteren Geschmack in ihrem Mund und ergriff die Hand des jungen Gentlemans, der sie um den nächsten Tanz bat.
Mehrere Partner folgten ihm. Zu Abigails Bedauern fesselte kein einziger ihre Aufmerksamkeit. Und keiner entfachte jene prickelnde Mischung aus Erregung und Freude, die sie beim Walzer mit Barton empfunden hatte. Zu einem zweiten Tanz forderte er sie nicht auf, was ihre Laune zusehends verschlechterte. Schließlich floh sie auf die Terrasse, weil sie für ein paar Minuten mit ihren Gedanken allein bleiben wollte.
Ermattet sank sie in einen der Korbsessel, die dort standen, und sah auf den stillen Garten hinunter, wo sie die Umrisse einiger Büsche und exakt gestutzter Hecken ausmachte. Anscheinend hielt sich außer ihr niemand hier draußen auf.
Warum kann ich die Gesellschaft nicht genießen, fragte sie sich. Es sah ihr gar nicht ähnlich, Trübsal zu blasen, dennoch befand sie sich in melancholischer Stimmung. Und im Grunde ihres Herzens wusste sie auch, warum.
Abigail zwang sich, der Wahrheit ins Auge zu blicken. So unglaublich es anmuten mochte – sie hatte immer intensivere Gefühle für den Mann entwickelt, dessen mangelhafte Moralbegriffe sie doch verachtete. Vielleicht hatte sie sogar glauben wollen, er wäre ein anderer geworden. Welch eine trügerische Hoffnung, dachte sie bekümmert. Ein Gentleman, der in aller Öffentlichkeit mit einer verheirateten Frau flirtete, würde sich niemals ändern und stets ein ruchloser Wüstling bleiben.
“Ah, Miss Graham …”, erklang eine gedehnte Stimme. “Hier also verstecken Sie sich.”
Verwirrt wandte sie den Kopf zur Seite und sah Mr. Asquith keine drei Schritte entfernt stehen. Er hatte offenbar nach ihr gesucht. Aber die Erkenntnis, dass der attraktivste Mann auf dieser Soiree ihre Gesellschaft schätzte, munterte sie nicht auf – eine Tatsache, die ihr schwaches Lächeln nur unvollkommen verhehlte.
“Bedrückt Sie irgendetwas, Ma’am?”, fragte er leicht pikiert. Anscheinend hatte er eine etwas enthusiastischere Reaktion auf sein Erscheinen erwartet. “Wären Sie lieber allein?”
“Keineswegs, Sir”, log sie. “Ich wollte lediglich ein wenig frische Luft schnappen. Und dann verlor ich mich in meinen Gedanken.”
Sicher hätte sein gewinnendes Lächeln so manches Frauenherz betört. Auf Abbie übte es nicht die geringste Wirkung aus.
“Nehmen Sie doch Platz, Sir, unterhalten wir uns ein bisschen … Oder kommen Sie, um mich zu holen, weil Sie von meiner Patentante darum gebeten wurden?”
“Oh nein, ich wollte Sie sehen”, beteuerte er. Als Gentleman, der auf sich hielt, ließ er sich in gebührendem Abstand nieder, um zu verhindern, dass ihre Röcke seine untadelige Kleidung streiften. “Ich hatte gehofft, Sie würden mir den letzten Tanz vor dem Souper gewähren und mir gestatten, bei der Mahlzeit an Ihrer Seite zu sitzen. Oder haben Sie dieses Privileg schon einem anderen versprochen?”
Dazu hätte sie
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