Ein Gentleman wagt - und gewinnt
Wetherby trat zu ihnen, nachdem er seinen Männern befohlen hatte, Searle abzuführen.
“Ja …” Barton zeigte auf den Stall. “Da drinnen liegt Ben Dodd. Er ist tot.”
In diesem Moment kam Josh aus dem halb verfallenen Gebäude gerannt. “Sir! Mr. Cavanagh! Sollten wir Miss Abbie nicht zu einem Arzt bringen?”
Zunächst hatte Barton das Gefühl, kein Wort zu verstehen. Die Schultern gebeugt, starrte er wie betäubt zu Boden. Dann hob er langsam den Kopf, und die beiden Männer, die ihn voller Sorge beobachteten, sahen, wie etwas in seinen Augen aufflammte.
Bevor einer von ihnen noch ein weiteres Wort sagen konnte, eilte er in den Stall und kniete neben Abbie nieder. Mit einem zitternden Fingern berührte er ihren schlanken Hals. Bis er den ersehnten schwachen Puls fühlte, dauerte es eine ganze Weile.
Gegen Abend saß Barton in seiner Bibliothek. Auf den ersten Blick erweckte er den Eindruck eines Mannes, der seine Gefühle unter Kontrolle hatte. Nur jemand, der ihn sehr gut kannte, hätte die angespannten Kiefermuskeln bemerkt, den gequälten Ausdruck in den halb geschlossenen Augen.
Sobald er gespürt hatte, dass das Leben noch durch Abbies Adern pulsierte, hatte er sie auf die Arme gehoben und war mit ihr aus dem Stall gerannt. Natürlich hatte er es nicht riskieren können, die schwer verletzte junge Frau den Erschütterungen auf einem Pferderücken auszusetzen. Und so war er mit ihr auf den schäbigen alten Karren gestiegen, hatte sein Taschentuch auf die Schusswunde gepresst und sich inständig gewünscht, er könnte die Blutung in Grenzen halten. Die Fahrt nach Cavanagh Court schien kein Ende zu nehmen, obwohl Josh den unterernährten Klepper erbarmungslos antrieb.
Inzwischen hatte einer von Wetherbys Soldaten den Doktor verständigt, der bereits in der Halle wartete. Von mehreren Dienstboten unterstützt, übernahm Lady Penrose die Aufsicht im Krankenzimmer. Barton wusste Abbie in den besten Händen. Doch das beruhigte ihn nicht. Schließlich waren seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden, als der Arzt ihn vor einer Stunde aufgesucht hatte, um mit ihm zu reden.
“Ich habe die Kugel entfernt und die Wunde gereinigt, Cavanagh. Zumindest kann ich Ihnen versichern, dass keine lebenswichtigen Organe getroffen wurden. Aber die junge Dame hat sehr viel Blut verloren, deshalb ist sie ziemlich geschwächt. Wenn sie von einer Infektion verschont wird, bleibt sie vielleicht am Leben. Morgen früh wird meine Diagnose etwas genauer ausfallen.”
Kurz nachdem der Doktor das Haus verlassen hatte, war Barton ins Krankenzimmer gegangen. doch auch dort hatte er keinen Trost gefunden. Vollkommen reglos lag Abbie im Bett, und der Anblick ihrer bleichen Wangen schürte seine Schuldgefühle.
Warum hatte er nicht sofort nach einem Lebenszeichen geforscht? Diese vernichtende Frage peinigte ihn unentwegt. War er, von maßloser Rachsucht besessen, zu keinem vernünftigen Gedanken fähig gewesen? Das viele Blut auf der Jacke ihres Reitkostüms hatte ihn zu der Überzeugung geführt, dass die Wunde tödlich gewesen sein musste. In Wirklichkeit war die Kugel oberhalb des Herzens in Abbies Brust gedrungen. Und so hatte er kostbare Zeit vergeudet, um Searle zu überwältigen, statt ihr zu helfen.
Nun saß er verzweifelt in der Bibliothek, von heftigen Gewissensqualen erfüllt. Wetherby war vor einer Weile zu ihm gekommen und hatte erklärt, Searle sei hinter Gittern und warte auf seine Gerichtsverhandlung. Danach hatte Barton die Dienstboten beauftragt, keine weiteren Besucher zu empfangen. Aber er wurde trotzdem in seinen bedrückenden Gedanken gestört.
Erstaunt blickte er auf, als der normalerweise so vertrauenswürdige Barryman die Tür öffnete und verkündete, es sei jemand eingetroffen, der sich nicht abweisen lasse. “Glauben Sie mir, Sir, ich würde ihn wegschicken, wenn …”
Der Satz blieb unvollendet, denn in diesem Moment schob ein hochgewachsener, distinguierter Gentleman den alten Butler beiseite und herrschte Barton ohne Umschweife an: “Was, zum Teufel, soll das heißen? Warum hast du mir diesen unverschämten Brief geschrieben?”
15. KAPITEL
V on einem Berg Kissen gestützt, saß Abbie im Bett und wartete geduldig darauf, dass eine ihrer selbsternannten Gefängniswärterinnen hereinkam und ihr erlauben würde aufzustehen. Nicht, dass sie unfähig gewesen wäre, sich allein anzukleiden …
Gewiss, am Anfang ihrer Genesungszeit hatte sie sogar, hilflos wie ein Baby, gefüttert werden
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