Ein Geschenk von Tiffany
es gewöhnt waren, sich nur in den besten Clubs, Hotels und Penthäusern des Erdballs aufzuhalten, war eigentlich ein schlechter Witz. Andererseits hatte Florence praktisch aus dem Nichts einen Job für sie aus dem Hut ziehen müssen. Und Location-Hunting bedeutete für Cassie, dass sie sozusagen bezahlt die Stadt erkunden durfte.
Als Suzy hörte, was Cassie zu tun hatte, hätte sie nicht entzückter sein können.
»Schätzchen, ich hab mehr Hochzeiten in Paris organisiert, als ich Reiskörner werfen kann«, hatte sie ins Telefon geschrien. »Alle wollen doch in der Stadt der Liebe heiraten. Pass auf, ich schicke dir eine Liste mit meinen besten Locations, aber die ist streng geheim, kapiert? For your eyes only . Schau sie dir an und sieh, ob was Passendes dabei ist. Viele davon sind in Privatbesitz. Unbewohnt, natürlich. Ich hab sie exklusiv, und das hab ich nur durch exzessives Stalking und schamlose Kriecherei geschafft. Also enttäusch mich bloß nicht!«
»Aha, das muss es sein«, dachte Cassie, nahm die Post aus ihrer Tasche und riss den obersten Umschlag auf. Dass er von Suzy kam, erkannte sie nicht nur an der chaotischen Handschrift ihrer Freundin, sondern auch an ihrem typischen lila Briefpapier mit der himmelblauen Hochzeitstorte drauf. Rasch sah sie durch, was ihre Freundin ihr geschickt hatte: ein paar Hochglanzbroschüren von Luxusapartments – eins davon mit einem Dachgarten mit Blick auf den Palais Royal –, drei Stadthäusern, einem Château im Süden der Stadt, an der Straße nach Fontainebleau, und einer 220-Fuß-Jacht, die an einem exklusiven Ankerplatz unweit des Eiffelturms lag. Darunter musste doch etwas sein, das selbst die verwöhnte Dior-Kundschaft begeistern würde.
Sie schickte eine E-Mail an Florence, in der sie Bescheid gab, dass sie auf Location-Suche sei und bis Mittag wieder zurück sein würde. Sie faltete die Liste zusammen und holte den zweiten Brief heraus – ein DIN-A-4-Umschlag, der doppelt mit braunem Klebeband zugeklebt worden war. Etwas rasselte darin, als sie ihn aufriss.
Déjà vu ? Sie öffnete ihn. Ein erdiger Geruch stieg ihr in die Nase. Samenkörner. Also doch.
Die beiliegende Karte war mit derselben braunen Tinte beschriftet wie zuvor, bloß dass diesmal kein aufmunterndes Motto dabei war, bloß die Pflegeanleitung. »Ja und? Was für Samen sind das, Henry?«, murmelte Cassie. Sie schüttete eine Handvoll auf ihre Handfläche und begutachtete sie. Es hätten ebenso gut Sesamkörner sein können, ein Snack, der ihr mit dem Eurostar zur Bekämpfung des kleinen Hungers zwischendurch geschickt worden war.
Cassie war ratlos. Wieso schickte er ihr andauernd Pflanzen in fremde Städte? Was er ihr mit dem Rasen hatte sagen wollen, das verstand sie ja noch – oder glaubte es zumindest: ein Stückchen Grün aus der Heimat, ein Stückchen Ländliches in einer urbanen Welt, und so weiter und so fort – aber das hier? Warum beauftragte er nicht einfach Fleurop, wenn er wollte, dass sie Blumen bekam?
Es lag noch eine Postkarte dabei. Sie war in Quadrate unterteilt, auf dem einen war ein Punker, auf dem anderen ein roter Doppeldeckerbus, auf dem dritten die Nelson-Statue und auf dem vierten das King’s-Road-Straßenschild zu sehen. Quer darüber stand in dicken roten Lettern: Wish You Were Here .
Lächelnd drehte sie die Karte um. Es war eine Liste. Noch so eine.
den point zéro besuchen
gewohnheitsmäßig ins Ladurée gehen
Claude anrufen (Tel. (33) 40 26 97)
sich zum dîner en blanc einladen lassen
die Katakomben besichtigen
den Kuss anschauen
auf jeden Fall weiter nach London reisen!
Henry xxx
Einiges davon verstand sie sofort. Den point zéro , den Nullpunkt, kannte sie bereits. Tatsächlich kam sie jeden Tag daran vorbei. Es handelte sich hier nicht um eine historische Landmarke wie der Ground Zero in New York, sondern um eine geografische: Eine Bronzetafel auf dem Vorplatz der Kathedrale von Notre-Dame, dem Zentrum von Paris, markierte die Stelle, von der aus sämtliche Kilometerentfernungen in Frankreich gemessen wurden. Das wäre also schon mal erledigt.
Klar, Der Kuss von Auguste Rodin, den musste man gesehen haben, das wusste sogar sie. Aber irgendeinen Fremden anrufen, ohne zu wissen, warum? Wollte Henry sie jetzt etwa auch verkuppeln? Wenn Anouk noch ein einziges Mal vorschlug, mit Pierre und Guillaume auf einen Drink auszugehen, würde sie schreien. Und was war dieses dîner en blanc ? Wo waren die Katakomben? Sollte sie etwa Höhlenforschung
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