Ein Geschenk von Tiffany
Gesichtsausdruck zu schließen handelte es sich um eine Katastrophe.
Von denen hatten sie heute bereits einige erlebt. Als Erstes mussten sie erfahren, dass der Visagist, der eigentlich heute hatte eintreffen sollen, um einen »Make-up-Probelauf« für die bevorstehende Modenschau durchzuführen, wegen eines Vulkanausbruchs in Indonesien, wo er Fotos für eine Zeitschrift machte, hängen geblieben war. Nicht einmal »seine Leute« wussten, wann er in der Lage sein würde, hier zu sein. Kelly hatte Cassie daraufhin eine eilig zusammengestellte, drei Seiten lange Liste von anderen international renommierten Visagisten gegeben, doch die waren alle bereits ausgebucht. Zwanzig Minuten später hatte das Supermodel, das eigentlich Bebe am Ende der Schau auf ihrer Ehrenrunde über den Laufsteg hätte begleiten sollen, abgesagt, da irgendein Fotograf namens Mario Testino in der Stadt sei und es für sein neues Projekt brauche. Als Cassie Bebe diese Nachricht überbrachte, hatte die tatsächlich einen Wutschrei ausgestoßen. Zumindest die Schuhe waren jetzt eingetroffen, nachdem die Fabrik in Neapel während des Sommers drei Wochen lang zugemacht hatte – aber leider nur die linken. Und nun würden auch noch die Kleider mit Teppich gesäumt werden müssen.
Bang auf ihrer Unterlippe kauend erwartete Cassie ihre nächsten Befehle. Es war ihr erster Tag in ihrem neuen Job. Kelly hatte sie der breitschultrigen, grobknochigen, hochgewachsenen Bebe mit ihrer tiefen Stimme – Cassie hatte noch nie jemanden gesehen, der sie mehr an einen Mann in Frauenkleidung erinnert hätte – als ihre neue »Senior Account Executive« vorgestellt. Cassie hatte geschluckt, als sie das hörte. »Senior«, das implizierte Erfahrung, eine Erfahrung, die sie nicht hatte. Ängstlich hatte sie sich auf ein Fragengewitter bezüglich ihres Hintergrunds gefasst gemacht, aber Bebe hatte sie lediglich grimmig gemustert und dann genickt. Ihr neues Erscheinungsbild war offenbar so gut wie ein bestandenes Vorstellungsgespräch, begriff Cassie. Jetzt fügte sie sich nahtlos in die New Yorker Fashion-Landschaft ein. Auch war ihr im Laufe des Vormittags klar geworden, dass es bei ihrem Job im Wesentlichen darum ging, Bebe bei Laune zu halten. Dass sie, Cassie, nichts von Werbung verstand und noch viel weniger von Mode, spielte keine Rolle. Nur leider war Bebe im Moment ganz und gar nicht zufrieden.
»Wissen Sie was, Bebe«, sagte Kelly und nahm langsam einen Streifen dicker schwarzer Spitze aus dem Karton, »ich finde die hier gar nicht so schlecht. Sie hat dieses … dieses sizilianische Fifties-Feeling …«
»Sizilianisch?«, jaulte Bebe. »Sizilianisch? Wie um alles in der Welt soll ich Sizilien in mein Thema reinwursteln? Ausgerechnet Sie schlagen mir das vor? Sie wissen doch, worauf meine gesamte Kollektion basiert: Dagestanische Kindsbraut flieht über den Kaukasus nach Europa und wird zum Darling von Paris. Jedes Outfit erzählt ihre Geschichte. Ich meine, schauen Sie sich doch nur diese Stickerei an: Die Hände, die das hier geschaffen haben, musste ich praktisch genetisch züchten, damit sie klein genug sind, um diese winzigen Stiche hinzukriegen. Verdammte Arbeitsschutzgesetze! Ich begreife nicht, wieso ich nicht einfach einen Schwung Kinder …«, brummelte sie ungehalten. Kopfschüttelnd stemmte sie die Hände in die Hüften. »Nein, nein und nochmals nein! Ein Abstecher nach Sizilien kommt nicht in Frage. Nur noch zwölf Tage, da haben wir keine Zeit, so weit nach Süden zu gehen.«
»Bee, ein Anruf auf Leitung eins«, sagte eine Assistentin bewundernswert unerschüttert.
»Ich ruf zurück!«, fauchte Bebe.
»Es ist Fiona. Sie hätte gern ein paar Worte zu deinem Aufhänger.«
Bebe war mit drei Sprüngen am Telefon. »Meine Liebe …«, schnurrte sie in den Hörer und verschwand mit dem Telefon in ihrem Büro.
»Wer ist Fiona?«, flüsterte Cassie, während Kelly schon dabei war, den Karton mit braunem Paketband wieder zuzukleben. Es war wichtig zu wissen, wer einen solchen Stimmungsumschwung bei Bebe bewirken konnte.
»Fiona Millar«, erklärte Kelly zerstreut. »Modekritikerin, ein echtes Schwergewicht. Ihr Wort entscheidet, ob der Käufer kauft.«
Cassie nickte. Den Namen musste sie sich merken.
»Ach ja, da fällt mir ein: Erinnere mich daran, dir unbedingt Fotos von allen zu geben, die in der ersten Reihe sitzen werden. Du musst wissen, wer wer ist. Davon hängt der Erfolg der Schau ab.«
»Aber wieso?«
»Weil sie sich nicht
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