Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
völlig fremdartig gewesen, ungehörig und widerwärtig. Selbst diejenigen, die in einer ähnlichen Weise wie wir lebten, taten das aus den falschen Gründen. Sie reagierten nicht auf eine positive gesellschaftliche Notwendigkeit, sondern nur auf ein damals existierendes System der Unterdrückung. Wir sind anders. Wir sind grundlegend anders.
Erschöpft, aber zufrieden mit dem, was er herausgefunden hat, verläßt er sein Büro eine Stunde vor der üblichen Zeit. Als er in sein Apartment zurückkehrt, ist Micaela nicht da.
Das überrascht ihn. Sie ist um diese Zeit sonst immer zu Hause. Die Kleinen sind allein zurückgeblieben, beschäftigen sich mit ihren Spielsachen. Er ist natürlich noch ein wenig früh dran, aber allzu ungewöhnlich ist das nicht. Ob sie nur kurz weg ist, um sich mit einer Nachbarin zu unterhalten? Ich verstehe das nicht. Sie hat ihm nicht einmal eine Nachricht hinterlassen. »Wo ist Mommo?« fragt er seinen ältesten Sohn.
»Sie ist weggegangen.«
»Wohin?«
Ein Schulterzucken. »Jemanden besuchen.«
»Wie lange ist das her?«
»Eine Stunde. Vielleicht zwei.«
Das hilft ihm nicht weiter. Er ruft verschiedene Frauen in derselben Etage an, Freundinnen Micaelas. Aber keine hat Micaela gesehen. Der Junge sieht zu ihm auf und sagt, als habe er eine plötzliche Eingebung: »Sie wollte einen Mann besuchen.« Jason sieht ihn stirnrunzelnd an. »Einen Mann? Hat sie das gesagt? Was für einen Mann?« Aber das war schon alles, was ihm der Junge sagen konnte. Er fürchtet, daß sie zu einem Rendezvous mit Michael gegangen ist, und überlegt, ob er in Edinburgh anrufen soll. Nur um zu sehen, ob sie dort ist. Eine längere innere Auseinandersetzung. Wirre Bilder rasen durch seinen Kopf. Micaela und Michael eng umschlungen, unzertrennlich, vereint, in Leidenschaft entflammt. Zusammengekettet in ihrer inzestösen Leidenschaft. Vielleicht ist das jeden Nachmittag der Fall, ohne daß er davon weiß. Wie lange schon? Er ruft Edinburgh an und bekommt Stacion auf den Bildschirm. »Micaela? Nein, sie ist nicht hier. Sollte sie hier sein?«
»Ich dachte nur – vielleicht vorbeischauen wollte…«
»Ich habe nichts von ihr gehört, seit wir zuletzt bei euch waren.«
Er zögert. Als sie schon die Verbindung unterbrechen will, fragt er: »Weißt du vielleicht, wo sich Michael im Augenblick aufhält?«
»Michael? An seinem Arbeitsplatz. Interface-Team neun.«
»Bist du sicher?«
Stacion sieht ihn mit unverhohlener Überraschung an. »Natürlich bin ich mir dessen sicher. Wo sollte er denn sonst sein? Sein Team hört nicht vor 1730 auf.« Sie lacht. »Nimmst du vielleicht an, daß Michael – daß Micaela…«
»Aber natürlich nicht. Für was für einen Narren hältst du mich eigentlich? Ich habe mich nur gefragt – ob vielleicht – wenn…« Er gerät ins Stottern. »Vergiß es, Stacion. Teile ihm meine Liebe mit, wenn er nach Hause kommt.« Jason unterbricht jetzt selbst die Verbindung. Er läßt den Kopf hängen, seine Augen sind voll von Visionen, die sich alle um Michael und Micaela drehen. Er wirft sich mit dem Gesicht nach unten auf die Kissen der Schlafplattform, um seine Lage zu überdenken. Aber er kann sich kaum rational damit auseinandersetzen, die Visionen sind stärker.
Die Tür geht auf, und Micaela kommt herein. Sie ist völlig nackt unter ihrem durchsichtigen Umhang und macht einen übermütigen, zugleich etwas zerknitterten Eindruck. Sie grinst Jason an. Die hinter diesem Grinsen verborgene Abscheu entgeht ihm nicht.
»Na?« sagt er.
»Na?«
»Es hat mich überrascht, daß du nicht hier warst, als ich nach Hause kam.«
Ungerührt legt Micaela ihren Umhang ab und tritt unter den Reiniger. Durch die Art und Weise, wie sie sich säubert, kann es für ihn keinen Zweifel mehr geben, daß sie eben mit einem anderen Mann geschlafen hat. Einen Augenblick später sagt sie: »Ich fürchte, ich bin ein bißchen spät zurückgekommen. Tut mir leid.«
»Von wo zurückgekommen?«
»Ich war bei Siegmund Klüver.«
Er ist erstaunt und erleichtert zugleich. Was bedeutet das? Tagwandeln? Und eine Frau übernimmt die sexuelle Initiative? Aber es war wenigstens nicht Michael. Wenigstens nicht Michael. Wenn er ihr glauben kann. »Siegmund?« wiederholt er. »Was willst du damit sagen?«
»Ich habe ihn besucht. Haben die Kleinen dir das nicht gesagt? Er hatte heute etwas Zeit übrig, und ich bin zu ihm gegangen. Es hat mir gut getan, das muß ich schon sagen. Ein erfahrener Liebhaber. Ich war
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