Ein Gott der keiner war (German Edition)
Fällen aus russischen Akademikerkreisen zugänglich. Und dasselbe gilt für alle kommunistischen oder mit dem Kommunismus sympathisierenden Schriftsteller, Journalisten und Intellektuellen. Jeder einzelne von uns hat mindestens einen Freund, von dem er weiß, daß er in einem Arbeitslager der Arktis umgekommen ist, als Spion erschossen wurde oder spurlos verschwand. Wie erbebten doch unsere Stimmen vor gerechter Empörung, wenn wir gelegentliche Haschläge der Justiz in den westlichen Demokratien aufzeigten, und wie eisern hielten wir den Mund, wenn unsere Genossen auf dem sozialistischen Sechstel der Erde ohne Verhandlung und Urteil liquidiert wurden. Jeder von uns schleppt seine Toten in den Kellergewölben seines Gewissens herum; zusammenaddiert gibt es da mehr Gerippe als in den Pariser Katakomben.
Der Dank des „Sozialistischen Vaterlande?'
In keinem Jahrhundert und in keinem Lande sind so viele Revolutionäre umgebracht oder zu Sklaven gemacht worden wie in Sowjetrußland. Und da ich selbst sieben Jahre lang für alle Torheiten und Verbrechen, die unter dein Banner des Marxismus begangen wurden, eine Ausrede zu finden wußte, ist für mich das Schauspiel dieser dialektischen Seiltänze, mit deren Hilfe im Grunde anständige Leute ihr eigenes Gewissen betrüge; noch entmutigender als die schlichte Barbarei der Armen im Geiste. Wer die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten dieser Akrobatenkunststücke auf dem Seil des Gewissens kennt, der weiß auch ungefähr, wie lange man darauf herumtanzen kann, bis es reißt.
Ungefähr um dieselbe Zeit, als ich von Alexens Verhaftung erfuhr, gelang es einem meiner Genossen, der in Deutschland fünf Jahre Zwangsarbeit verbüßt hatte, nach Paris zu entkommen. Vor seiner Verhaftung hatte er für einen Zweig des Apparats gearbeitet, dessen Leiter inzwischen liquidiert worden waren. Das genügte der Partei, um meinen Freund und seine Frau, ohne daß man sie vorher angehört oder ihnen eine Möglichkeit zur Verteidigung gegeben hätte, als Agenten der Gestapo anzuprangern. Die Parteipresse veröffentlichte ihre Bilder mit der Warnung, jede Berührung mit ihnen zu vermeiden. Ich hatte schon von anderen Fällen dieser Art gehört, sie aber stets mit einem Achselzucken abgetan und meinen geistigen Seiltanz fortgesetzt. Jetzt waren diese beiden Individuen für mich wichtiger geworden als die abstrakte Idee, in deren Namen sie geopfert werden sollten, und ich nahm bedingungslos für sie Stellung. [8]
Die Partei reagierte immer noch nicht. Sie hatte mich, als ich im Gefängnis saß, als Märtyrer für Propagandazwecke ausgenutzt, und es mußte erst noch einige Zeit vergehen, bis sie mich als faschistischen Agenten denunzieren konnte.
Ketzereien
Das Ende kam, wie ich schon sagte, auf eine durchaus undramatische Art. Im Frühjahr 1938 hatte ich vor dem „Schutzverband Deutscher Schriftsteller in Paris" einen Vortrag über Spanien zu halten. Kurz vor Beginn der Veranstaltung ersuchte mich ein Vertreter der Partei, einen Absatz in das Manuskript aufzunehmen, in dem die POUM als Agentur Francos bezeichnet werden sollte. Ich lehnte das ab. Er zuckte mit den Achseln und fragte mich, ob ich ihm den Text meines Vortrages zeigen und „inoffiziell" mit ihm „durchsprechen" wolle. Auch das lehnte ich ab. Die Veranstaltung fand im Saal der „Sociiti des Industries Frafflises" an der Place St. Germain des Près statt. Die Zuhörerschaft bestand aus zwei- bis dreihundert emigrierten Intellektuellen, die Hälfte davon Kommunisten. Ich wußte, daß dies mein letztes öffentliches Auftreten als Mitglied der Partei sein würde. Die Rede enthielt keinerlei direkte Kritik gegen die Partei oder gegen Sowjetrußland. Aber sie enthielt drei sorgfältig formulierte Sätze, die für normale Menschen Gemeinplätze waren, für Kommunisten einer Kriegserklärung gleichkamen. Der erste dieser Sätze lautete: „Es gibt keine Unfehlbarkeit einer Person, einer Bewegung, oder einer Partei." Der zweite hieß: „Toleranz dem Feinde gegenüber ist ebenso selbstmörderisch wie Intoleranz dem Freunde gegenüber, der dasselbe Ziel auf einem abweichenden Wege verfolgt." Der dritte Satz war ein Zitat von Thomas Mann: „Eine schädliche Wahrheit ist besser als eine nützliche Lüge."
Damit war es geschehen. Als ich geendet hatte, applaudierte die nichtkommunistische Hälfte der Zuhörerschaft, während die Kommunisten – zum größten Teil mit untergeschlagenen Armen – in
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