Ein Grausames Versprechen
sehen, wie gut ich gehen kann.«
»Was?«
»Ich sagte gerade, ich zeige dir, wie gut ich laufen kann.«
»Nein, nein.« Ella packte die Klingelschnur. »Ich glaube es dir.«
»Ich will es dir aber zeigen.«
»Lass gut sein Mum, ehrlich. Ich muss sowieso gehen.«
Netta schaute auf die Wanduhr. »Aber du hast noch eine ganze Stunde.«
»Tut mir leid«, sagte Ella. »Ich muss zurück an die Arbeit.« Sie beugte sich über das Bett und umarmte ihre Mutter, spürte ihre Schulterknochen, wie Netta ihr den Rücken tätschelte - zweimal klopfen, einmal reiben -, so wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte.
»Denkst du, du kommst dazu, beim Haus vorbeizufahren und nach den Pflanzen zu sehen?«, sagte Netta in ihr Ohr. »Lily von nebenan kümmert sich um sie, aber ich habe manchmal Angst, dass sie es vergisst.«
»Ich werde es versuchen«, sagte Ella. »Mal sehen.«
»Und sieh zu, dass du mich wieder besuchen kannst, ja? Oder ruf an. Ella, carina ?«
» Si , Mama. Ciao .«
Kaum saß sie im Wagen, bekam sie Schuldgefühle. Sie konnte wirklich keine zwanzig Minuten mehr erübrigen? Nicht einmal zehn?
Sie sollte zurückgehen.
Sie umklammerte das Lenkrad, blickte einen Moment durch die schmutzige Windschutzscheibe. Dann griff sie nach dem Sicherheitsgurt.
Mum würde schon klarkommen. Sie hatte Arbeit zu erledigen.
20
Ella fuhr die Stacey Street hinauf zum Hume Highway und bog dann nach Chullora ab. Sie würde nicht anhalten, dachte sie, sie würde einfach am Haus ihrer Eltern vorbeifahren, dann konnte sie sagen, alles sehe bestens aus. Lily kümmerte sich um Pflanzen, als wären es ihre Kinder, deshalb war es kaum vorstellbar, dass irgendwas einging, ehe Netta nach Hause kam. Wahrscheinlich hatte Lily eher neue Pflanzen für sie gezogen, die für einen zweiten Garten reichen würden.
Sie verlangsamte, als sie sich dem Haus näherte. Lily saß auf einem leeren Düngersack, die rote Legionärsmütze tief ins Gesicht gezogen, ein blaues Männerhemd über ihr ärmelloses Kleid geknöpft. Sie grub Winden mit einer Essgabel aus. Ella schaute an ihr vorbei zum Haus, sah das Gewächshaus an der Seite, die Rosen entlang der niedrigen Mauer, die Farnbäume bei der Veranda. Lily blickte jetzt zum Auto, und Ella winkte, auch wenn Lily sie hinter den getönten Scheiben nicht sehen konnte. Egal. Sie hatte zumindest vorbeigeschaut, und alles sah bestens aus. Netta würde zufrieden sein. Oder auch nicht. Ella fuhr weiter und dachte an das sonst stets fröhliche Wesen ihrer Mutter. Die Unzufriedenheit, die sie jetzt ausstrahlte, war ein klares Zeichen für Schmerz, Angst und das Leiden unter dem Krankenhausaufenthalt. Ella fuhr auf dem Hume Highway zurück in Richtung Summer Hill und überlegte, ob es eine Möglichkeit gäbe, sie früher nach Hause zu holen. Ihre Eltern wären begeistert, keine Frage, aber konnte sie irgendwelche Verpflichtungen eingehen, wenn sie nie wusste, was sich bei dem Fall noch alles ergeben würde und wann sie eventuell bis spätabends oder sogar die ganze Nacht arbeiten musste? Es wäre nicht so toll, wenn Netta inzwischen im Badezimmer säße und darauf wartete, geduscht zu werden. Könnte Adelina kommen und bei ihnen wohnen? Wenn Adelina ebenfalls da wäre, wäre Ella weniger eingeschränkt, und es könnte vielleicht funktionieren.
Sie würde darüber nachdenken, aber noch nichts sagen.
Die ganze Strecke bis Summer Hill herrschte Stop-andgo-Verkehr, und dann musste sie auf eine Lücke im Gegenverkehr warten, bis sie in Laurens Straße einbiegen konnte. Sie warf unterdessen einen Blick zu Laurens Haus und erschrak, als sie einen Rettungswagen davor stehen sah. Du lieber Himmel, was ist jetzt los? Sie hätte anrufen sollen, ob alles in Ordnung war. Sie tastete nach ihrem Handy in der Tasche, doch dann erspähte sie eine Lücke und sauste um die Ecke.
Der Rettungswagen stand genau vor dem Haus, aber man sah keine Leute, und die Haustür war geschlossen. Ella eilte mit einem flauen Gefühl im Magen den Fußweg entlang. Auf ihr Klopfen ging über der Haustür ein Fenster auf. Sie kniff die Augen zum Schutz vor der Sonne zusammen.
»Hallo.« Es war Kristis Stimme. »Ich komme gleich runter.«
Als sie die Tür aufmachte, sagte Ella: »Ich war ganz schön besorgt im ersten Moment.«
»Ach, wegen des Sankas? Lauren und Joe waren gerade in der Gegend und haben vorbeigeschaut.«
Das war praktisch. Ella folgte Kristi nach oben. Als sie ins Wohnzimmer kam, stand Lauren vom Sofa auf. »Hallo.«
Aus
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