Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
die Idee von der Möglichkeit »ihrer eigenen Angelegenheiten« bedeutete für mich eine Beleidigung; übrigens waren das alles nur krankhafte, häufig nur physiologisch bedingte Empfindungen, deren Beschreibung sich nicht lohnt. Tatjana Pawlowna besuchte mich ebenfalls beinahe täglich, und obwohl sie nicht gerade zärtlich mit mir umging, schalt sie mich doch wenigstens nicht wie früher, was mich so außerordentlich reizte, daß ich ihr einfach ins Gesicht sagte: »Wenn Sie nicht schimpfen, Tatjana Pawlowna, sind Sie sterbenslangweilig.« – »Dann werde ich dich eben nicht mehr besuchen«, parierte sie, drehte sich um und ging. Und ich war froh, daß ich wenigstens eine hinausgeekelt hatte.
Am schlimmsten quälte ich Mama, und mit ihr war ich besonders gereizt. Ich entwickelte einen unheimlichen Appetit und beschwerte mich, wenn mein Essen zu spät kam (es kam niemals zu spät). Mama wußte nicht, wie sie es mir recht machen sollte. Einmal brachte sie mir eine Suppe und begann, wie üblich, mich zu füttern, ich aber murrte beim Essen die ganze Zeit. Und plötzlich ärgerte ich mich über mich selbst: »Sie ist vielleicht der einzige Mensch, den ich liebe, und dabei quäle ich ausgerechnet sie.« Aber meine Wut ließ nicht nach, und vor lauter Wut brach ich plötzlich in Tränen aus, aber sie, die Ärmste, glaubte, ich weinte vor Rührung, beugte sich über mich und begann mich zu küssen. Ich beherrschte mich und duldete es und haßte sie in dieser Sekunde tatsächlich. Obwohl ich Mama immer liebte, auch damals, und sie keineswegs haßte, geschah das, was immer geschieht: Wen man am meisten liebt, den kränkt man auch am ehesten.
Gehaßt habe ich in jenen ersten Tagen nur den Arzt. Dieser Arzt war ein junger Mann mit hochmütiger Miene, der sich stets scharf, sogar unhöflich äußerte. Als hätten sie, die Männer der Wissenschaft, alle erst gestern und plötzlich etwas Außerordentliches entdeckt, während doch gestern gar nichts Besonderes geschehen war; aber so ist es immer mit dem »Mittelmaß« und der »Straße«. Ich habe mich lange beherrscht, aber plötzlich platzte mir der Kragen, und ich erklärte ihm vor der versammelten Familie, daß er sich völlig umsonst hierherbemühe, daß ich auch ohne sein Zutun vollkommen gesund werden würde, daß er, trotz der Attitüde des Realisten, selbst von Vorurteilen strotze und nicht begreife, daß die Medizin noch nie jemand geheilt habe; und schließlich, daß er höchstwahrscheinlich völlig ungebildet sei, »wie alle unsere Techniker und Spezialisten, die in letzter Zeit bei uns die Nase so hoch tragen«. Der Doktor war sehr beleidigt und bewies schon dadurch, wer er war, stellte jedoch seine Besuche nicht ein. Ich erklärte Werssilow, daß ich, wenn der Doktor seine Besuche nicht einstelle, ihm etwas noch zehnmal Unangenehmeres sagen würde. Werssilow entgegnete kühl, daß es unmöglich sei, etwas nur doppelt so Unangenehmes zu sagen wie das bereits Gesagte, geschweige denn das Zehnfache. Ich freute mich, daß es ihm aufgefallen war.
Wer war eigentlich dieser Mensch? Ich meine Werssilow. Er, er allein war immer die eigentliche Ursache – und nun: der einzige, auf den ich damals nicht wütend war. Es lag nicht allein an seiner Manier mir gegenüber, die mich bestochen hatte. Ich glaube, daß wir beide das Gefühl hatten, wir hätten uns manches gegenseitig zu erklären … und gerade deshalb jeder Erklärung aus dem Wege gingen. Es ist außerordentlich angenehm, wenn man in solchen Lebenslagen auf einen gescheiten Menschen stößt! Ich habe bereits im zweiten Teil meiner Aufzeichnungen vorgreifend erwähnt, daß er mir klipp und klar über den Brief des verhafteten Fürsten an mich berichtet hatte, über Serschtschikow, über seine öffentliche Erklärung zu meinen Gunsten usw. usf. Da ich mich zum Schweigen entschlossen hatte, richtete ich an ihn mit aller gebotenen Trockenheit nur zwei, drei möglichst kurze Fragen; er beantwortete sie klar und exakt, ohne auch nur ein einziges überflüssiges Wort, und das war das Beste, ohne jede Gefühlsregung. Gerade die Gefühlsregungen waren mir damals besonders verhaßt.
Über Lambert schweige ich, aber der Leser wird natürlich erraten haben, daß ich nur allzuoft an ihn dachte. Im Delirium soll ich einige Male Lambert erwähnt haben; aber als ich zu mir gekommen war und meine Umgebung wahrnahm, verstand ich sehr bald, daß alles, was Lambert betraf, ein Geheimnis geblieben war und daß sie nichts von ihm
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