Ein guter Mann: Roman (German Edition)
von Anfang an klar, oder?« Sie klang wirklich wie eine Verkäuferin.
»Ja«, antwortete er.
»Warte mal«, sagte sie, »du überlegst dir das. Und dann rufst du mich einfach an und sagst: Ich bin gleich in Frankfurt.«
»Ja, gut. Und pass auf dich auf.«
»Das werde ich.« Sie lachte und unterbrach die Verbindung.
Vielleicht hat sie immer so gelebt, überlegte er wütend. Mal hier etwas mitnehmen, mal da etwas mitnehmen. Warum auch nicht? Das Leben ist kurz, wie solche Leute wahrscheinlich betonen. Und warum sollte sie sich binden? Sie war verheiratet und geschieden. Also hatte sie die Erfahrung schon. Vorausgesetzt, das stimmte. Hieß sie wirklich Karen Swoboda? Hatte sie wirklich eine Werbefirma in Frankfurt? Und wollte er wirklich eine Antwort auf diese Fragen?
Bald nahm der Betrieb dieses besonderen Tages ihn voll in Anspruch. All jene Menschen aus der engeren Bekanntschaft und Verwandtschaft, die sich für gute Freunde seines Vaters hielten, klingelten und wollten versorgt werden. So war er denn der trauerumwölkte Sohn, der mit Thermoskannen bewaffnet Kaffee und Tee verteilte, auf einem großen Tablett Sekt und Orangensaft reichte oder belegte Brötchen servierte.
Dazwischen die hohe Stimme seiner Mutter. »Das ist Tante Gerlinde, Karl. Aber du kennst doch Tante Gerlinde noch?« Oder die Feldwebelstimme von Tante Trude: »Wie, du bist der kleine Steppke von vor fuffzehn Jahren? Nicht zu fassen!«
Irgendwann machte die Trauergemeinde sich auf den Weg zum Friedhof, und seine Mutter behielt Recht: Es waren mehr als zweihundertfünfzig Leute, die sich zum Gottesdienst einfanden.
Seine Mutter raunte, als sie in der ersten Bankreihe Platz nahmen: »Also, das geht schief. So viel Platz haben Grüns ja gar nicht.«
»Das regelt sich«, beschwichtigte er.
Dann war plötzlich Anna-Maria neben ihm, und er wurde ein wenig ruhiger, setzte sich und nahm sie auf den Schoß.
Da sein Vater im religiösen Leben der Gemeinde nicht die geringste Rolle gespielt hatte, war dem Pfarrer die schwere Aufgabe übertragen, so zu tun, als habe er ihn gekannt. Der Pfarrer versuchte das jedoch erst gar nicht, sondern erklärte in dürren Worten, der Herr habe den Herrn Müller zu sich in sein Reich gerufen. Und nun wollen wir beten … Der Gottesdienst war erfreulich kurz, der Weg zum offenen Grab auch. Dann stand Müller neben seiner Mutter eine Dreiviertelstunde lang am offenen Grab und musste vielen Menschen die Hand schütteln, von denen er nicht genau wusste, wer sie waren und warum sie seinen Vater verabschiedeten.
Dann sah er Krause.
Er stand in seinem unvermeidbaren beigefarbenen Trenchcoat einhundert Meter entfernt neben zwei Scheinzypressen, hielt die Arme locker vor dem Bauch verschränkt und wirkte wie ein interessierter Spaziergänger, der bei seinem Gang durch den Friedhof zufällig auf Lebende trifft.
Müller war augenblicklich beglückt, denn das war ohne Zweifel eine Ehre. Und mehr noch fühlte Müller, dass dieser Krause es war, bei dem er ein Zuhause gefunden hatte.
»Junge«, sagte seine Mutter neben ihm mahnend, »das ist Klara, mit der du mal im Sandkasten gespielt hast.«
»Hallo, Klärchen«, sagte Müller. »Schön, dich zu sehen.«
»Ich lebe jetzt in Bremen«, sagte Klara aufgedreht. »Und ich habe vier Kinder.«
»Das ist schön!«, sagte Müller wenig überzeugend.
Als er den Kopf wieder hob, um nach Krause Ausschau zu halten, war er nicht mehr zu sehen, der Platz neben den Zypressen leer.
Er hat einen Spaziergang gemacht, dachte er. Das tut er oft. Diesmal, weil mein Vater beerdigt wurde, hierher auf diesen Friedhof. Es ist gut, dass ich Teil dieses Mönchsordens bin.
»Ich habe schon einhundertvier Leute zu Grüns eingeladen«, tuschelte seine Mutter.
»Das packen wir«, sagte er beruhigend.
»Wir gehen dann heim«, bemerkte Melanie. »Ich muss noch einmal in die Bank.«
»Aber natürlich, mein Liebchen«, sagte seine Mutter mit dem Charme einer Eisenfeile.
Dann standen sie endlich allein vor dem Schacht des Grabes, seine Mutter nahm eine Hand voll Erde und ließ sie auf den Sarg fallen. Sie sagte: »Du weißt ja gar nicht, wie sehr er mir fehlen wird. Wenn du fünfzig Jahre lang neben einem Menschen am Morgen aufwachst, dann kannst du dir nicht vorstellen, wie es ist, ohne ihn aufzuwachen.«
»Ich bin da, auch wenn ich ihn nicht ersetzen kann«, sagte er. »Ich verspreche dir, da zu sein.«
Dann sah er Karen.
Sekundenlang hatte er das Gefühl einer Sinnestäuschung, aber
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