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Ein guter Mann: Roman (German Edition)

Ein guter Mann: Roman (German Edition)

Titel: Ein guter Mann: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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und war bemüht, diese Minuten als einen Neubeginn zu begreifen. Aber er konnte es nicht. Er dachte an die Augen seiner Tochter und fand, dass sie alt ausgesehen hatten, so, als habe das Kind alles längst begriffen. Ich bin gescheitert, dachte er, ich bin elend gescheitert.
     
    Er fuhr zu seinem Elternhaus und fand seine Mutter mit Tante Trude am Küchentisch. Sie tranken Kaffee, waren blass und schweigsam und lächelten ihm flüchtig zu.
    Er trug die Koffer und Kisten in sein altes Zimmer hinauf und starrte nachdenklich auf das, was von mehr als zehn Jahren geblieben war. Es war erschreckend wenig. Dann nahm er die Tageszeitung und ging mit einer Tasse Kaffee in das Zimmer seines Vaters.
    Der Kobalt-Raub war noch immer auf den Titelseiten. Kommentatoren ließen sich weiterhin darüber aus, was wohl geschehen könnte, und die Zitate der Politiker wirkten plump und hilflos. Der Kanzler hatte verlauten lassen, er sehe keinen Grund dafür, dass eine schmutzige Bombe für eine Erpressung herhalten könnte. Die Deutschen hätten ihre muslimischen Nachbarn längst als Freunde begriffen, es gebe im internationalen Konzert keinen Beobachter von Rang, der die These vertrete, die Deutschen seien gegen den Islam. Der Kanzler bemerkte, es sei gerade jetzt an der Zeit, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren. Schließlich sei man nicht eine Sekunde lang bereit gewesen, den Krieg gegen den Irak zu unterstützen. Das werde sich auszahlen.
    Unter dem Titel »Bodenloser Leichtsinn« konzentrierte sich ein anderer, großer Beitrag auf mögliche Folgen einer schmutzigen Bombe. Tschernobyl lautete das Schlüsselwort. Man habe die Katastrophe so wenig aufgearbeitet, dass selbst nach Jahrzehnten immer noch nicht bekannt sei, wie viele Tote es denn eigentlich gegeben habe: zehntausend oder zweihundertfünfzigtausend. Im technisch hochgerüsteten Amerika seien in kürzester Zeit rund tausenddreihundert Strahlenquellen verschwunden, größtenteils wohl einfach in den Müll gewandert. In einer brasilianischen Stadt sei auf einer Mülldeponie ein komplettes Bestrahlungsgerät entdeckt worden. Kinder hätten es geöffnet und sich das grellgrüne Zeug ins Gesicht geschmiert. Man müsse dort von etwa vierzig- bis fünfzigtausend Verstrahlten ausgehen. In Georgien hätten Waldarbeiter mit Cäsium 137 gefüllte Benzinkanister gefunden und neben ihnen geschlafen, weil die Kanister so schön warm gewesen seien. Nach vierundzwanzig Stunden seien sie allerdings tot gewesen. Und eine komplett gebaute schmutzige Bombe habe als Warnung an die Regierung eines Tages in einem Moskauer Park gelegen. Es sei sehr wahrscheinlich, dass das in Deutschland geraubte Material nicht in Deutschland verwendet werde, aber die Politiker müssten sich fragen lassen, wie es denn sein könne, dass hoch radioaktives Material bar jeder Sicherheitsmaßnahme fröhlich hin und her gekarrt werde.
    Achmed, dachte Müller, wo bist du?
    Weil er sich fürchtete, in grenzenlosen, ekelhaften Fantasien zu versinken, rief er Karen an.
    »Ich wollte dir nur Guten Morgen sagen.«
    »Das ist schön. Geht es dir besser?«
    »Ja«, antwortete er. »Und ich hoffe, dass ich diese Träume verliere.«
    »Du kannst sie nur verlieren, wenn du sie begreifst. Eines Tages werden sie vergangen sein«, sagte sie lebhaft. »Hol dir Hilfe. Ich habe mir große Sorgen gemacht. Deine Seele ist voll gepackt mit Schwierigkeiten.«
    »Ja, das sieht so aus.«
    »Sehen wir uns heute noch? Ich meine, ich muss morgen eigentlich nach Frankfurt zurück.«
    »Dann geht es nicht mehr«, sagte er mit einem hohlen Gefühl im Magen. »Ich habe heute Nachmittag etwas Wichtiges zu erledigen. Dienstliches. Das kann ich nicht verschieben.«
    Plötzlich war ihre Stimme ganz fern. »Da haben wir beide aber Pech.«
    »Ja, das haben wir.« Weshalb bat er sie nicht darum, noch zwei Tage zu bleiben? »Dann brauche ich deine Frankfurter Adresse.«
    »Ja, klar«, sagte sie. »Hast du etwas zu schreiben?« Sie war freundlich und weit entfernt.
    »Ja, klar, habe ich.«
    Sie diktierte, er schrieb mit.
    »Tja, es wäre ja schön, wenn ich dich mal in Frankfurt sehen könnte.«
    Eine plötzliche Wut schoss in ihm hoch, weil er fand, dass sie wie die Verkäuferin im Fleischerladen klang: »Darf es ein wenig mehr sein?«
    »Ich finde das nicht gut«, sagte er.
    »Was findest du nicht gut?«
    »Dass du so einfach verschwindest. Und ich kann nichts dagegen tun.«
    Sie schwieg sehr lange.
    »Das haben wir aber doch gewusst. Ich meine, das war doch

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