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Ein guter Mann: Roman (German Edition)

Ein guter Mann: Roman (German Edition)

Titel: Ein guter Mann: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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Zweifel gab es nicht. Auch sie trug einen Trenchcoat. Sie war nicht weiter entfernt als dreißig oder vierzig Meter. Gelassen ging sie auf einem schmalen Pfad zwischen Gräberreihen, schaute zu ihm hin, nickte und ging weiter. Zweifelsfrei: Karen Swoboda mit der Löwenmähne.
    »He, Moment mal«, sagte er hastig und laut. Er wollte losstürzen. Aber dann merkte er, dass Karen offensichtlich kein Treffen wollte, denn ihre Schritte wurden immer schneller, und Müller war der Weg durch viele Menschen versperrt, die nur langsam vorwärts kamen.
    »Was ist denn, mein Junge?«, fragte seine Mutter irritiert.
    »Eine alte Freundin«, sagte er. »Ich bin erstaunt, sie hier zu sehen.«
    »Dann lass uns jetzt zu Grüns fahren. Wieso alte Freundin?«
    Er musste lächeln. »Na ja, eine wirklich gute alte Freundin eben.«
    »So was hast du, Junge?«
    »So was habe ich, Mama.« Er fasste sie behutsam am Ellenbogen, und sie gingen langsam von dem Grab fort.
    »Und wann siehst du Anna-Maria? Geht das so wie nach den modernen Ehescheidungen? Zwei Stunden alle vierzehn Tage, und wenn du zweieinhalb Stunden daraus machst, bricht die Welt zusammen?«
    »Ich hoffe nicht«, sagte er. »Und jetzt geht es zur Fütterung der Raubtiere.«
    Er fragte sich, warum Karen gekommen war. Ausgerechnet zur Beerdigung seines Vaters. Und warum sie nicht einfach zu ihm hingekommen war, obwohl sie doch wissen musste, dass ihm das geholfen hätte. Erst Krause, dann Karen. Er war sehr verwirrt.
    Bei Grüns hatte man das Personal verdoppelt, der Saal war voll, es herrschte Lärm wie in einem überfüllten Bahnhof. Mit Erleichterung stellte Müller fest, dass seine Mutter sich begeistert ins Gewühl stürzte und mit allen möglichen Leuten gleichzeitig sprach, wobei sie sich groteskerweise dauernd wie eine Tänzerin drehte.
    Jemand dicht vor ihm sagte erleichtert: »Mein Junge, endlich kriege ich dich zu fassen! Ich wollte ja etwas zum Tod meines Bruders sagen, und ich habe seit Tagen darüber nachgedacht, wie ich das tun kann, dass es wirklich jedem, der hier ist, etwas gibt. Wir Älteren haben ja die Pflicht, nicht einfach irgendetwas zu sagen, sondern etwas, das bleibt, über das man nachdenken kann, was einem einfällt, ehe man abends einschläft. Und da mein Bruder ja eine tief gläubige Person war, ist mir Folgendes eingefallen. Wir waren doch vier Geschwister daheim …«
    Er hatte aufdringlich gelbe Zähne und heftigen Mundgeruch. Ich mag ihn nicht, dachte Müller.
    »… und da gibt es eine köstliche Begebenheit, die uns allen tief im Gedächtnis geblieben ist. Eines Abends kam unser Vater, den dein Vater ja sehr verehrt hat, leicht bedudelt nach Hause und rief die Familie zusammen. Du siehst, ich will auf die Familie hinaus, deshalb erzähle ich diese Geschichte, deshalb ist sie so wertvoll. Also, unser Vater ruft die Familie zusammen, sitzt da in seinem Sessel und dröhnt: Nun hört mal gut zu! Also, so würde ich gern anfangen, wenn du nichts dagegen hast. Und dann kann man ohne Schwierigkeiten überleiten zu meinem eigentlichen Anliegen. Das heißt: Familie und Gott, und ich denke mir das so, dass …«
    »Hör zu«, sagte Müller scharf. »Mein Vater ist beerdigt worden, dein Bruder. Du kannst um ihn trauern. Aber wenn du eine Rede schwingen willst, obwohl hier alle nur etwas essen und sich friedlich unterhalten wollen, dann schwinge diese Rede draußen auf dem Parkplatz. Mein Vater war niemals eine tief gläubige Person, und ich verbiete dir, hier laut zu werden. Ist das klar?«
     
     
     
     
    Gegen 14 Uhr verließ Müller die Trauergesellschaft, fuhr nach Hause und zog sich um. Als er in die Kühle der Tiefgarage des Amtes tauchte, wurde er augenblicklich ruhiger und fand es richtig, Karen nicht angerufen zu haben. Welche Beweggründe sie auch immer gehabt hatte, auf dem Friedhof zu erscheinen, sie würde es ihm erklären. Dann stahl sich für eine Sekunde die Frage in sein Bewusstsein, ob Karen Swoboda möglicherweise hatte prüfen wollen, ob er tatsächlich einen Vater hatte, der verstorben war und an diesem Tag beerdigt wurde.
    Auf seinem Besuchersessel hatte jemand die komplette Ausrüstung eines SEK-Mitgliedes ausgebreitet. Darauf lag ein Zettel: »Ich hoffe, du hast dir keinen Bauch angefressen. Mach es gut und viel Glück! Herbie.«
    Er begann sofort, sich umzuziehen, und wurde von einem Sturm an Erinnerungen überwältigt. An das oberste Prinzip des SEK, die Freiwilligkeit. Wer gehen wollte, sollte gehen. Der Dienst ging immer vor.

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