Ein gutes Herz (German Edition)
Junge nickte.
»Ich nehme dich jetzt mit nach draußen.«
»Und die anderen? Und Lia?«
»Die hole ich auch gleich. Zuerst du, dann Lia und die Übrigen. Das habe ich deiner Mutter versprochen. Alle kommen frei.«
Der Junge betrachtete die Waffe, die Kohn trug, dann Kicham Ouaziz und die Waffe in dessen Hand. Den jammernden, blutüberströmten Kämpfer auf dem Fußboden. Und Sallie, der stumm neben der Tür stand. Dann klammerte er sich hilfesuchend an Kohn.
»Ich muss Lia holen«, sagte er.
»Ich hole sie gleich.«
»Sie muss mit.«
»Sie kommt mit«, sagte Kohn.
Sah Theo jetzt, was die Lebenden nicht sehen konnten? Er hatte Augen, deren Blickfeld nicht auf diesen Raum beschränkt war. Mit schneeweißen Flügeln schwebte er durch die Eingangshalle, durch die Außenwände hindurch und wieder zurück nach drinnen. Er konnte auf die Dächer schauen und in die Keller. Um die Sonne herumfliegen und durch Ozeane gleiten. Er sah die nahende Gefahr. Die Männer von der Polizeieinheit rüsteten sich zum Sturm der Schule. Da draußen herrschte Panik. Die Schüsse nötigten zum gewaltsamen Eingreifen. Bei den Kindern in der Aula befanden sich zwei Schützen. Die musste er irgendwie in die Eingangshalle locken. Kohn musste den Jungen beschützen, und die Polizei die anderen Kinder. Aber wie? Wie konnte er verhindern, dass das Ganze eskalierte? Wie konnte er Kohn und seinen Sohn dazu bewegen, sofort die Eingangshalle zu verlassen? Wie konnte er dafür sorgen, dass die Polizei im richtigen Moment eindrang?
Theo hatte sich nicht aus eigenen Stücken und freiem Willen für seine heutige Rolle entschieden. Wenn Boujeri ihn nicht enthauptet hätte, wäre er weiterhin durch Amsterdam geradelt, hätte hin und wieder eine Frau umworben und vielleicht, mit ein bisschen Massel, einen Preis bei einem der großen Filmfestivals gewonnen und mit einem vernünftigen Budget einen Genrefilm in Amerika gedreht, einen Krimi oder so. Aber jetzt musste er seiner Bestimmung als Engel gerecht werden und ein Wunder bewirken. Ein Wunder mit Hilfe einer Plastikarmbanduhr. Kein sich teilendes Rotes Meer. Keine Wiederauferstehung aus dem Grab. Kein Über-das-Wasser-Gehen.
Niemand würde je erfahren, dass es ein Wunder war. Ein kleines Wunder, auch das nicht. Im Zifferblatt der Armbanduhr von Kicham Ouaziz spiegelte sich das Licht einer der Deckenleuchten in der Eingangshalle – so würde Nathan es in Erinnerung behalten. In der herzförmigen Uhr am Handgelenk von Ouaziz.
Als Ouaziz im Amstel Hotel gewesen war, hatte Kohn eine Bemerkung darüber gemacht – Theo war dabei gewesen. Er erkannte, dass er nur tun konnte, was er tun musste, indem er den Blick von Kohn und Nathan auf die Uhr von Ouaziz lenkte. Indem Licht darauf fiel. Indem er selbst zu Licht wurde, für den Bruchteil einer Sekunde. Reines Licht. Eine unscheinbare, kindliche Armbanduhr in Herzform. Es war nicht einmal eine Swatch. Sie kam aus chinesischer Billigfabrikation. Massenhaft hergestellt und massenhaft in Container gestopft. Ein großer Teil davon ging schon während des Transports kaputt. Egal. Selbst wenn ein Viertel davon reklamiert wurde, war der Gewinn immer noch beachtlich. Nathan hatte gestern auf dem Muntplein so eine Uhr getragen – Theo hatte sie gesehen, als er dort auf Kohns Schulter saß. Und Sallie hatte seinem Vater einmal genau so eine Uhr zum Geburtstag geschenkt. Ouaziz trug sie jetzt. Einfache Plastiksymbole der Liebe. Billige und doch kostbare Zeichen der Zuneigung. Theo musste zu Licht werden, zu reiner Energie. Er musste sich auflösen. Sich in Licht verwandeln, um Nathan und Kohn die herzförmige Uhr an Ouaziz’ Handgelenk zu zeigen.
War es das, worauf seine Zeugung, sein Leben, sein Geist und sein Sterben hinauslaufen sollten? Die Muttermilch, die er getrunken hatte, die Schulen, die er durchlaufen hatte, die Schuhe, die er verschlissen hatte, die Geilheit, die Ejakulationen, das Essen, der Alkohol, die Einsamkeit und die Erwartungen (jeden Tag, trotz allem, wahnsinnig machende, erregende Erwartungen, was das Leben zu bieten hatte), die Filme und Kolumnen und die Wut und die Aversionen und die Rage und – auch, trotz allem – Liebe und Zärtlichkeit und lautes Lachen und blöde Witze und subtiler Humor und Exhibitionismus und das Wunder des Kindes in seinen Armen und, schließlich, die Flammen, die seinen Leib verzehrt hatten – alles für eine Lichtreflexion auf dem Zifferblattdeckel einer chinesischen Herzuhr? Keine kosmische Explosion, keine
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