Ein gutes Herz (German Edition)
erwartet hätte. Ein großer, hagerer Mann mit schmalem Gesicht und unruhig hin und her wanderndem Blick. Sein Haar war hellblond und am Ansatz stark gelichtet. Er war leger gekleidet, mit brauner Kordhose und kariertem Hemd unter grünem Pullover. De Winter fühlte sich eher an einen unverheirateten Mathelehrer erinnert als an einen »Manager«. Van der Ven war allein im Haus, doch vieles dort deutete darauf hin, dass er verheiratet war und Kinder hatte: Fotos auf dem Kaminsims, verstreute Spielsachen, weibliche Accessoires.
Van der Ven erzählte von seinen Messungen und Versuchsanordnungen.
»Wozu das Ganze?«, fragte de Winter. »Warum haben Sie sich so intensiv damit befasst?«
»Es war so ungewöhnlich. So… magisch. Wie ein Signal aus einer anderen Welt. Ich glaube nicht an andere Welten, damit Sie mich nicht missverstehen. Aber aufgrund dieses Lichtblitzes haben sie gerade rechtzeitig den in dem Moment gefährlichsten Ort in den gesamten Niederlanden, nein, in ganz Europa verlassen. Und dadurch blieben sie am Leben. Und mit ihnen alle Kinder.«
»Sie glauben wirklich, dass sie diesen Lichtblitz gesehen haben?«
»Das habe ich mir nicht ausgedacht, das ist ihre Geschichte, ihre Wahrnehmung. Einem derartigen Detail begegnet man bei solchen Operationen sonst nie.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Sie müssen darüber schreiben. Im Ministerium will niemand etwas davon wissen. Sie denken, dass ich verrückt geworden bin. Dass bei mir irgendeine Sicherung durchgeknallt ist, in meinem Kopf.«
»Sind Sie nicht zur Geheimhaltung verpflichtet?«
»Im Prinzip schon, ja.«
»Sie setzen Ihren Job aufs Spiel.«
»Ich möchte das unbedingt aufklären, so merkwürdig die Geschichte auch klingt. Es ist dort wirklich ein Phänomen aufgetreten, das man als Lichtblitz beschreiben kann. Eine gewaltige Entladung von Photonen. Wo kamen die her? Die Armbanduhr hatte nicht etwa einen Kurzschluss, und ein Kurzschluss hätte auch niemals zu einer Stichflamme oder Ähnlichem führen können. Der Zifferblattdeckel der Uhr war im Übrigen unbeschädigt, ein völlig glattes Stückchen Plastik. Kaum Kratzer, weil dieser Ouaziz im Gefängnis sehr vorsichtig damit umgegangen war. Also habe ich mich an der Sache festgebissen.«
»Eine einfache Kinderuhr«, sagte de Winter. »Nicht gerade der geeignetste Mittelpunkt für ein Wunder.«
»Sie machen sich keine Vorstellung, was ich alles über diese Uhr weiß, Herr de Winter. Ich bin mir bewusst, dass ich mich anhöre wie ein Spinner. Aber ich versichere Ihnen, das bin ich nicht. Ich bin völlig klar im Kopf. Sie müssen unbedingt darüber schreiben, im Telegraaf. «
»Was werden Ihre Chefs dazu sagen?«
Van der Ven blieb einige Sekunden lang stumm und sagte dann: »Kohn und Ouaziz hatten Minikameras bei sich. So konnten wir auch den besten Moment für die Stürmung der Schule abpassen. Wir sahen mittels der Kamera von Kicham Ouaziz, dass er von seinem Sohn niedergestochen wurde, der Junge hatte ein Messer bei sich, ein teures Fleischermesser. Kohn war gerade nach oben gerannt. Kohns Kamera hatte den Lichtblitz bereits festgehalten. Ich habe die Aufnahme gesehen. Aber die DVD ist verschwunden. Ich weiß nicht, wer den Auftrag dazu gegeben hat. Und mich hat man aus dem Verkehr gezogen. Ich wurde krankgeschrieben. Jetzt hocke ich den ganzen Tag zu Hause. Ich habe bis vor kurzem zwanzig Stunden pro Tag gearbeitet. Für den Staat. Und nun hocke ich zu Hause rum und drehe Däumchen.«
De Winter hielt sich inzwischen seit zwei Monaten im Haus von Bram Moszkowicz in der Nähe von Juan-les-Pins auf, um an einem Buch über den Anschlag auf das Opernhaus und die Geiselnahme zu arbeiten. Anstoß dafür war dieser abgedrehte van der Ven gewesen, dessen Geschichte die verführerischen Ingredienzien inspirierender Verrücktheit hatte. Daraus ließ sich ein Buch machen. Aber wie?
Max Kohn war eine erstklassige Informationsquelle. Er hatte sich im Hintergrund halten können, als nach Beendigung des Dramas die Welle der internationalen Veröffentlichungen losbrach. Die Beendigung des Dramas war ja auch spektakulär: Alle Geiselnehmer von Scharfschützen getötet, ebenso wie der Vater eines der Jungen, der sich »offenbar« in die Schule eingeschlichen hatte, um seinem Sohn beizustehen. Im Flugzeug hatte es keine Toten gegeben.
Nachdem de Winter die Geschichte von van der Ven gehört hatte, erkundigte er sich per Skype bei Max und Nathan nach dem Lichteffekt. Zu seiner Verblüffung bestätigten sie,
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