Ein gutes Herz (German Edition)
Winter. Der habe das durch sein krankes Hobby ja selbst herausgefordert.
Auf van Goghs Erklärung, mit seinem bizarren Hobby sei de Winter selbst dafür verantwortlich, dass man boshafte Bemerkungen darüber mache, wussten die Kritiker nichts zu erwidern. Er hatte sie offensichtlich übertölpelt. Vielleicht war dieser de Winter ja tatsächlich ein komischer Kauz, der Stacheldraht sammelte. Sie konnten nicht wissen, dass van Gogh log. Auch die Zuschauer im Studio blieben stumm. Und die Moderatorin fragte sich genauso wenig, ob das wahr sein konnte. Die Lüge war perfekt vorgetragen worden, fast wie ein Bekenntnis, das van Gogh eigentlich gar nicht machen wollte, weil de Winter dabei so schlecht wegkam. Es war faszinierend, wie sich van Gogh, ohne mit der Wimper zu zucken und völlig spontan, mit einer tödlichen Lüge verteidigte.
David de Vries konnte de Winter folglich nicht zu seinem vermeintlichen Hobby interviewen. Aber de Winter hatte jetzt Stoff für ein Buch gefunden. Mit drei Protagonisten, die an jenem grauen Novembertag des Jahres 2004 für immer miteinander verbunden wurden: van Gogh, sein Mörder Boujeri und die somalische Aktivistin und Politikerin Ayaan Hirsi Ali. De Winter und seine Exfrau waren mit Ayaan befreundet gewesen und hatten sie in ihrem Anliegen, der Befreiung muslimischer Frauen, auf jede erdenkliche Weise unterstützt. Ausgerechnet mit van Gogh hatte Ayaan, ohne de Winter darüber zu informieren, einen Kurzfilm über die Unterdrückung von Frauen im Islam gemacht – das arabische Wort dafür hieß ins Englische übersetzt Submission. Das war auch der Titel des Films, der van Goghs Ermordung zur Folge haben sollte. Im Roman würden sich die Wege dreier Radikaler kreuzen. De Winter könnte ihn zum zehnten Todestag von van Gogh am zweiten November 2014 fertig haben. Er hörte schon die Vorwürfe von van Goghs Freunden: De Winter hat aus van Gogh Kapital geschlagen.
Van Gogh hatte seine eigenen Freundes- und Bewundererkreise, und zu denen würde de Winter nur schwer Zugang finden. Van Goghs Aversionen hatten ansteckend gewirkt, de Winter war bei ihnen in Verruf. Aber es gab genug über van Gogh zu lesen, und auch von ihm selbst geschriebene Artikel waren in Hülle und Fülle vorhanden. Darüber hinaus bot YouTube einiges an Filmmaterial. Van Gogh war ein begnadeter Interviewer gewesen. Er hatte eine ganze Reihe von Videos, von Gesprächen mit Politikern und Künstlern hinterlassen, und die waren oft scharfsinnig, klar und präzise. Van Gogh war ein Mann mit einem Dutzend Gesichtern gewesen.
De Winter sah sich gerade eines dieser Videos an, als Bram Moszkowicz anrief.
»Leon, ich hatte gerade einen Anruf von Max Kohn.«
»Max Kohn?«
»Ja. Wir haben doch im Zusammenhang mit Sonja über ihn gesprochen, als ich die Idee hatte, dass ihr vielleicht gut zusammenpassen würdet.«
»Ja, ich weiß.« De Winter war sofort klar, dass ihn keine gute Nachricht erwartete.
»Kohn ist in der Stadt«, sagte Bram in neutralem Ton. »Vor elf Jahren war er eine Zeitlang mein Klient. Er ist dann nach Amerika gegangen, und ich habe ab und zu etwas für jemanden gemacht, der hier seine Geschäfte weiterführt, er hat unter anderem noch Immobilienbesitz. Bist du ihm je persönlich begegnet, Leon?«
»Ja.«
»Woher kennst du ihn?«
»Das ist nicht so einfach zu sagen.«
»Du verstehst doch, warum er hier ist. Es hat mit Sonja zu tun.«
»Das hatte ich schon befürchtet, ja.«
Sie schwiegen eine Weile. Als Bram in Südfrankreich von ihr erzählt hatte, hatte er seinen schreibenden Freund gleich darauf hingewiesen, dass sie die alte Liebe von Max Kohn sei. Aber Max sei untergetaucht, habe das Land verlassen, um sich der Aufmerksamkeit zu entziehen.
Moszkowicz sagte: »Er bat mich, ihm dabei zu helfen, sie ausfindig zu machen. Und ich habe ihm gesagt, dass ich weiß, wo sie sich aufhält, aber dass sie mit einem anderen Mann zusammen ist.«
»Und wie hat er darauf reagiert?«
»Er sagte, dass das kein Problem für ihn sei. Er erhebe keine Ansprüche auf sie – so meinte er wörtlich. Er sagte auch, dass er ein anderer Mensch geworden sei.«
Beunruhigt fragte de Winter: »Weißt du, was er in den vergangenen zehn Jahren gemacht hat?«
»Nein. Wir haben nur kurz miteinander gesprochen. Ich sagte, dass ich mit Sonja reden und versuchen würde, ein Treffen zu arrangieren. Er hörte sich sehr ausgeglichen an. Ich habe keinen Grund zur Beunruhigung gesehen. Aber man kann natürlich nie wissen. Ich dachte
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