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Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon de Winter
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hier so nach Karamell. Heute verbrennen sie wohl nur die zuckerkranken Juden.« Oder: »Hör mal, Jesus, was hältst du von einem heiteren Familienfilm über ein kleines Mädchen, das den ganzen Krieg hindurch bei der Gestapo anruft: Wann holt ihr mich denn endlich! Wann holt ihr mich denn endlich! Mein Tagebuch ist fertig! Und keiner kommt!«
    Es war der Beginn einer langen Reihe von Beiträgen, in denen van Gogh sich im Laufe von knapp zwanzig Jahren in verschiedenen Printmedien über de Winter auslassen sollte. Als Kolumnist bei der Amsterdamer Studentenzeitung Folia streute er die folgenden Sätze in einen Artikel ein: »Wie wär’s heute Abend mit Treblinka, Schätzchen. Worauf die Geliebte zu einem Stück Stacheldraht greift, das sie Leon um den Schwanz windet.«
    Regelmäßig wurden de Winter und seine Frau mit van Goghs öffentlichen Tiraden konfrontiert, für die er in der niederländischen Regenbogenpresse immer Platz fand. Es war schmerzhaft, und man fühlte sich sehr einsam, wenn man permanent von so einem schlauen Wüterich verunglimpft und beleidigt wurde, der sich als Kolumnist, Fernsehmacher, Regisseur und Interviewer immer größerer Bekanntheit erfreute.
    De Winter begann, Orte und Veranstaltungen zu meiden, wo er van Gogh über den Weg laufen könnte, denn zur Vergeltung für all die Beleidigungen hätte er ihm in die Fresse schlagen müssen, wenn sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hätten. Um einen Skandal zu vermeiden, zog sich de Winter aus den Amsterdamer Schriftsteller- und Intellektuellenkreisen zurück und versuchte, das komplexe Phänomen Theo van Gogh – ein talentierter, aber destruktiver Künstler mit dem Äußeren eines Lastwagenfahrers – aus seiner Erlebniswelt zu verbannen.
    Was sich als unmöglich erwies. Immer wieder trat irgendwer mit der Bemerkung auf de Winter zu: »Hast du gesehen, was van Gogh jetzt wieder über dich geschrieben hat?«
    Ein Großteil von de Winters Familie war im Holocaust umgebracht worden, seine Kindheit von den Geschichten darüber geprägt gewesen. Es verstand sich für ihn von selbst, dass er diesen Erfahrungen und Geschichten in seinem literarischen Werk Gestalt verlieh – er wäre ein Unmensch gewesen, wenn er sie verleugnet hätte. Van Gogh kümmerte das nicht. Er kritisierte de Winters Vorliebe für jüdische Figuren und nannte das »ausschlachten«. Van Gogh war der Meinung, dass sich de Winter als Autor nicht von seiner Familiengeschichte inspirieren lassen dürfe, und wenn doch, dürfe er kein Geld dafür verlangen. Die Anschuldigung, als Jude Kapital aus seiner jüdischen Familiengeschichte zu schlagen, bediente sich antisemitischer Ressentiments. De Winter wusste nicht, wie er sich dagegen wehren sollte. Am besten ignorierte er van Gogh.
    Und das tat er. Doch als van Gogh ermordet wurde, musste er sich einfach mit ihm befassen, und er wunderte sich selbst darüber, dass er van Gogh diesen Tod nicht gewünscht hätte. Nicht mehr. Er hatte sich an ihn gewöhnt wie an ein Holzbein.
    Durch David de Vries, Sonjas Ex, darauf aufmerksam gemacht, sah sich de Winter also van Goghs Auftritt in der Fernsehsendung Das schwarze Schaf im Internet an. Darin wurde van Gogh von einer Kritikerin unter den eingeladenen Gästen mit dem Zitat über den Stacheldraht konfrontiert, der de Winter von seiner Geliebten im »Treblinka-Liebesspiel« um den Schwanz gewunden werde.
    Van Gogh parierte diese Kritik mit überwältigender Autorität und Selbstbeherrschung. Todernst sagte er zu der Frau, die ihm das Zitat vorgeworfen hatte: »Ich habe diesen Artikel über den Stacheldraht geschrieben, weil mich ein Jude anrief, der sagte: Leon de Winter hat ein Hobby, er sammelt Stacheldraht aus Konzentrationslagern. Ich habe das recherchiert, und es wurde mir von mehreren Seiten bestätigt. Mein Artikel war also keine satirische Überspitzung, sondern ein augenzwinkernder Kommentar zu den Hobbys, von denen man mir berichtet hatte.«
    De Winter hatte keine Hobbys. Schon gar nicht das, Stacheldraht aus Konzentrationslagern zu sammeln. Der Gedanke war absurd, um nicht zu sagen abartig. Die scharfe Attacke der Kritikerin, einer jüdischen Wissenschaftlerin, gegen diese antisemitische Rhetorik war lang genug gewesen, dass van Gogh sich rasch eine Verteidigungsstrategie ausdenken konnte. Er erfand kurzerhand die Geschichte von de Winters Stacheldrahtsammlung und präsentierte diese als starke, definitive Widerlegung seiner vermeintlichen Boshaftigkeit gegen de

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