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Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon de Winter
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an.
    Cohen hätte eigentlich die ganze Unterrichtsstunde lang bleiben sollen, und danach war noch eine Sitzung mit Lehrkörper, Eltern und Pädagogen geplant, aber die würden sicher alle Verständnis haben.
    An diesem Tag wurde er von vier Sicherheitsleuten des DKDB eskortiert, des Schutz- und Begleitdienstes für das Königshaus, Diplomaten und bedrohte Politiker. Vor der Schule wartete ein gepanzerter Mercedes. Cohen sah es als seine Aufgabe an, alle Bewohner seiner Stadt, egal welcher ethnischen Gruppe und welchem Glauben sie angehörten, zum friedlichen Zusammenleben zu zwingen, doch seit dem Mord an Theo van Gogh hatten islamistische Fundamentalisten ihn ins Visier genommen. Er war Jude, der Oberjude des Sodom und Gomorrha an der Nordsee. Als postreligiöser Progressiver hatte er seine eigene Ethnizität immer als archaische Folklore abgetan, doch sie war einem hartnäckigen Parasiten gleich genauso an ihm haftengeblieben wie sein Name. Er hatte sich nie mit seiner jüdischen Herkunft gebrüstet, hatte darin nie etwas Außergewöhnliches oder Hehres gesehen, sondern nur Aberglauben und jahrhundertelanges Elend. Ohne selbst etwas dazu beigetragen zu haben, war er für die Außenwelt seit van Goghs Tod jüdischer als je zuvor. Er lebte jetzt hinter einer Mauer von Sicherheitsleuten. Er bekam Drohmails. Im Sekretariat des Rathauses wurden Briefkuverts geöffnet, deren Inhalt vortäuschen sollte, es handele sich um einen AnthraxAnschlag. Auf Internetsites von Fanatikern wurde er Jud Cohen genannt.
    Bevor er in den Wagen stieg, zog er sein Privathandy hervor, ein kleines Samsung, das in seine Handfläche passte. Damit führte er Gespräche, die nicht auf den Anruflisten seines Bürgermeistertelefons auftauchen sollten. Marijkes Nummer war unter 1 gespeichert. Sie nahm nicht ab.
    Vor seinem Mercedes fuhr ein BMW der Sicherheitsleute und ein zweiter BMW folgte. Blaulichter wurden auf dem Dach angebracht, und Sirenen begannen zu heulen. Er sah, wie Vögel erschrocken und unbeholfen von dem Flachdach des Neubaukomplexes wegflatterten, in dem die Schule untergebracht war.
    Er ahnte nicht, dass noch ein zweiter Bush-Moment kommen sollte.
    Unterwegs hatte er den Minister für Sicherheit und Justiz am Apparat, und danach den Ministerpräsidenten. Wenn Cohen auf den Vorschlag seiner Partei-Elite eingegangen und als Chef der Sozialdemokraten nach Den Haag gegangen wäre, hätte er jetzt womöglich selbst einen dieser Posten bekleidet. Aber er hatte das geheime Angebot – außer dem kleinen Kreis der Parteispitze wusste niemand davon – abgelehnt. Er rechnete im Juni 2010 nicht damit, dass aus den Wahlen eine überlebensfähige Koalition hervorgehen würde. Die Niederlande waren ein Koalitionsland. Die Essenz ihrer Politik war der Kompromiss. Darin war er auch versiert, doch der Aufstieg der PVV von Geert Wilders stand einem Mitte-Links-Kabinett im Weg. Cohen war Bürgermeister von Amsterdam geblieben. Und seine Partei war, wie er es vorhergesehen hatte, in Den Haag auf der Oppositionsbank gelandet. Das war für ihn nicht der richtige Ort. Er war der geborene Entscheidungsträger. Ein Technokrat – der Begriff hatte für ihn nichts Negatives.
    Minister und Premier sagten ihm ihre Unterstützung zu und baten darum, über die weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten zu werden, und er dankte ihnen für ihre Anteilnahme und versprach, sie telefonisch zu informieren, sobald er einen besseren Überblick hatte. Der Sicherheits- und Justizminister bot an, schon einmal Analysten der Nationalen Koordinationsstelle für Terrorabwehr und -schutz ( NKTS ) ans Werk zu setzen, aber Cohen hielt das für verfrüht. Vorerst deute nichts auf ein kriminelles oder terroristisches Motiv hin. Es handelte sich um ein Gasleck. Es musste ein Gasleck sein. Oder war das reiner Selbstbetrug?
    Konnten Gaslecks durch einen Terroranschlag verursacht werden? Natürlich. Er rief den Justizminister sofort zurück und sagte, dass eine Analyse seitens der NKTS natürlich sehr willkommen sei. Sämtliche Optionen wahrnehmen. Nach 2001 war das dringend geboten.
    Van Ast, der auf dem Beifahrersitz saß, sagte: » AT 5 hat schon Bilder. Wollen Sie sie sehen?« Auf der Rückseite seines Sitzes war in der Kopfstütze ein Fernsehbildschirm angebracht.
    »Ja«, antwortete Cohen.
    Auf dem Bildschirm waren zuerst nur bunte Striche zu sehen, die sich aber verdichteten, bis plötzlich ein klares Bild entstand. Es zeigte die Vorderseite des Opernhauses, das mit dem

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