Ein gutes Herz (German Edition)
Vortrags lautete »Finanzkrise passé – Chancen für unsere Gesellschaft«. Laut Ankündigung sollte es darin um den Scheideweg gehen, an dem die Niederlande standen: »Die zentrale Frage bei den kommenden Wahlen – und weit darüber hinaus – muss sein: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Entscheiden wir uns für eine Gesellschaft der breiten Mitte, in der Möglichkeiten der sozialen Mobilität eine lockende Perspektive darstellen? Eine Gesellschaft mit einer starken, unternehmerischen, innovativen, grünen Wirtschaft? Eine Gesellschaft, in der verantwortliche Bürger von unten genauso gefragt sind wie von oben?«
Dass de Winter Cohens Vortrag mit abgegriffenen Worthülsen von Politiker-Urgesteinen spickte und ihn geradezu mutwillig mit Klischees überfrachtete, entging weder Cohen noch van Ast. Doch in der naiven Annahme, dass der Schriftsteller wohl sicher gewusst hatte, was er tat, hielt Cohen den Vortrag trotzdem. Und dann hatte de Winter ihn drei Tage später in einem Artikel im Elsevier dafür angegriffen. Diese Chuzpe! Da zitierte er doch tatsächlich hämisch einige von ihm selbst eingeflochtene Sätze und schlug Cohen mit Waffen, die er eigenhändig beschafft hatte.
Van Ast hatte ihm eine Mail geschickt: »Stolz? Zufrieden? Jegliche Integrität passé?« Antwort von de Winter: »Sorry, aber wenn ihr nicht gesehen habt, was für ein Quark das war, geschieht es euch ganz recht.«
Cohen konnte nicht darüber lachen. Das war ein gemeiner, pubertärer Streich gewesen. Trotzdem, vielleicht hatte van Ast recht, vielleicht konnte es jetzt nicht schaden, de Winter um ein wenig rhetorisches Theater zu bitten.
»De Winter ist ein Arsch«, sagte Cohen. »Aber er kann mit Sprache umgehen. Achte bitte darauf, dass er uns nicht wieder austrickst.«
Sie bogen in die Nassaukade ein und schossen an den stattlichen Häusern mit Blick auf die Singelgracht vorüber. Bei jeder Seitenstraße blockierte ein Polizist auf dem Motorrad den Durchgangsverkehr. Die Operation lief wie geschmiert, sie wurde von versierten Motorradfahrern ausgeführt, die ständig miteinander in Kontakt standen und dafür sorgten, dass der Konvoi den Bürgermeister ungehindert im Eiltempo ins Polizeipräsidium bringen konnte.
Die Polizeisirenen machten einen fürchterlichen Lärm, aber dennoch hörte Cohen zwischendrin noch andere Sirenen, ein hysterisches Heulen erfüllte die ganze Luft. Mit einem Knopfdruck öffnete er sein Seitenfenster, was eigentlich nicht erlaubt war, und horchte auf die jaulende Stadt.
Die Kolonne raste in die Marnixstraat, der Fahrtwind strich Cohen übers Gesicht. Er war früh aufgestanden. Bei seinem starken Bartwuchs würde er sich rasieren müssen, bevor er später vor die Fernsehkameras trat. Van Ast hatte ein Auge dafür und würde ihn in einen Raum führen, wo Rasierapparat und Kamm bereitlagen sowie eine Bürste, um die Schuppen von seinen Schultern zu entfernen. Er musste sich gerade aufrichten und mit fester Stimme sprechen – Tatkraft musste er ausstrahlen. Die Stadt sollte darauf vertrauen, dass er jetzt alles Nötige in die Wege leitete. Morgen musste er Verletzte besuchen. Vielleicht nachher schon einmal zur Stopera fahren.
Er beugte sich nach vorn und fragte van Ast: »Wann kann ich dorthin?«
»In einer Stunde vielleicht? Es wäre nicht ratsam, das jetzt gleich zu tun. Wenn alle Verletzten abtransportiert sind, würde ich sagen.«
Wo war Marijke? Er musste sich um alle Opfer kümmern, aber der Gedanke, dass sie gerade in der Tiefgarage war, als die Explosion stattfand, ließ ihn nicht los. Er hatte häufiger Freundinnen gehabt, manchmal sogar mehrere gleichzeitig, die er nach einem komplizierten Zeitplan traf; mit Marijke hatte er im Laufe von zehn Monaten eine engere Beziehung aufgebaut, als er es vorgehabt hatte. Er war kein schöner Mann, das heißt, schön wie George Clooney, aber Frauen fühlten sich schon immer zu ihm hingezogen. Was er mit seiner Ehefrau verabredet hatte, ging niemanden etwas an. Er würde sie niemals verlassen, niemals im Stich lassen, niemals verraten. Er wusste, wie groß sein Spielraum war, und die Presse hatte ihn diesbezüglich in Frieden gelassen. Aber sein Liebesleben blieb eine heikle Angelegenheit, die eines Tages von irgendeinem Pressefuzzi aufgeblasen werden konnte, wenn er zu lässig mit den Grenzen umging. Nicht viel im Leben war eindeutig, und das betraf auch den eigenartigen Umstand, dass Frauen auf eine kürzere oder längere Affäre mit dem
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