Ein gutes Herz (German Edition)
Rathaus ein architektonisches Ganzes bildete, die sogenannte Stopera. Kein Gebäude, das man sofort mochte, dafür war es zu streng und zu hart, aber Cohen hatte sich an die geraden Linien gewöhnt und das Arrogant-Regenteske der Architektur im Laufe der Jahre als charakteristisch für diese Stadt akzeptiert, die nach außen hin anarchistisch wirkte, im Innern aber schon seit Generationen von einer starken sozialdemokratischen Elite regiert wurde.
Der Opernhausteil der Stopera hatte einen weitläufigen, hohen Eingangsbereich hinter einem Halbrund aus stilisierten Grachtenhausfassaden. Schwarze Rauchwolken beeinträchtigten die Sicht auf das Gebäude, aber es war unverkennbar, dass große Stücke der Außenwand weggebrochen waren. Das massive Dach schien noch intakt zu sein.
Cohen, der mit den Abläufen bei der Feuerwehr vertraut war, wusste, dass die Leute nur mit größter Vorsicht in das Gebäude hineinkonnten, weil zunächst festgestellt werden musste, ob Einsturzgefahr bestand. War das geklärt, ging es als Erstes darum, Menschen zu retten. Das hatte höchste Priorität. Ein Journalist kommentierte die Fernsehbilder. Der Amsterdamer Stadtsender AT 5 habe sämtliche Kamerateams bei der Stopera postiert. Sie könnten das Gebäude aus mindestens zehn Perspektiven zeigen. Man sah eine chaotische Ansammlung von Feuerwehrfahrzeugen, Polizei- und Krankenwagen.
Die Operation hatte noch keine klare Linie, da wurde noch zu viel hin- und hergerannt, und zu viele Fahrzeuge waren falsch geparkt. Es war unübersehbar, dass die Dienste ihre Befehlsstrukturen noch nicht ausreichend koordiniert hatten; das würde, wie Cohen wusste, in den kommenden Minuten passieren, wenn sich die Kommandanten bei der sogenannten »Motorhaubenbesprechung« in die Augen blicken konnten. Jetzt wurde noch improvisiert, und es ging darum, schnellstmöglich Überlebende aus den Trümmern zu holen. Ein Kameramann setzte eine Verletzte ins Bild, eine Frau mittleren Alters, die von einer grauen Staub- oder Ascheschicht überzogen war und laut wimmerte. Es folgte ein Zoom auf ihr schmerzverzerrtes Gesicht – perverser Voyeurismus.
Cohen wandte den Blick ab und schaute auf die Bahngleise hinaus, an denen sie jetzt entlangfuhren.
»Mach’s aus«, sagte er zu van Ast. »Ich bekomme das ja gleich alles zu sehen.«
Zu beiden Seiten des Mercedes tauchten jetzt Polizisten auf Motorrädern auf, die vorfuhren und die Kreuzungen blockierten, damit der Wagen nicht aufgehalten wurde. Das System funktionierte.
Cohen wählte noch einmal Marijkes Nummer. Wieder keine Antwort.
Bernard Welten, sein Polizeipräsident, rief erneut auf seinem offiziellen Handy an. »Hast du AT 5 an?«
»Ich hab’s gerade wieder ausgemacht.«
»Wir haben jetzt einen Kommandowagen vor Ort. In fünf Minuten läuft dort alles wie am Schnürchen.«
Cohen fragte: »Gibt es Tote?«
»Schwerverletzte, etwa zwanzig. Dutzende Leichtverletzte. Keine Toten, soweit ich bisher weiß. Aber mindestens zehn Menschen schweben in Lebensgefahr. Das OLVG ist in Bereitschaft.«
»Waren Leute im Opernsaal? War eine Aufführung?«
»Es waren Proben.«
Cohen wusste davon. Marijke hatte es erzählt.
»Das Nationalballett?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht – ich werde mal nachfragen, eine Sekunde.«
Marijkes jüngster Bruder tanzte im Nationalballett, einer der wunderbarsten Tanzgruppen der Welt. Er war zwölf Jahre jünger als Marijke. Ein eleganter Tänzer, muskulös und geschmeidig, ganz wie seine Schwester, die Soziologieprofessorin an der Universität Amsterdam war. Cohen war beim Umtrunk nach einer Vorstellung des Balletts vor einem knappen Jahr mit ihr ins Gespräch gekommen. Drei Tage später hatten sie in einem kleinen Hotel in Zandvoort zum ersten Mal miteinander geschlafen.
Professor Doktor Marijke Hogeveld, geschieden, Mutter von drei Kindern, mit dem straffen Körper einer Dreißigjährigen.
Sie nahm sich seiner an, und er stellte danach erstaunt fest, dass es ihm komplett egal war, ob sie womöglich seinen Untergang bedeutete. Alles, was sie ihm geben würde, würde er dankbar annehmen. Sie sahen sich mindestens einmal die Woche, es gab aber auch Phasen, in denen sie sich drei-, viermal hintereinander trafen. Dafür nahmen sie das Apartment ihres Bruders Filip in Anspruch. Der war mehr oder weniger mit seinem Freund zusammengezogen und benutzte das Apartment an der Nieuwe Prinsengracht höchstens noch als erweiterten Kleiderschrank. Cohen konnte dort ungesehen ein und aus gehen.
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