Ein gutes Herz (German Edition)
irre langweilig war. Typen wie ihn erst mal eine Weile unter Beobachtung zu stellen erschien ihm aber schon vernünftig. Etwa so wie Geistesgestörte, die in einer Anstalt von Psychiatern beobachtet wurden. Er brauchte nur etwas Zeit, um das zu akzeptieren. Zeit und einen Job.
Schutzengel Theo. Theo van Gogh, SE .
Jimmy hatte ihm gleich einen Lehrgang aufs Auge gedrückt (Grundkurs Schutzengel Ersten Grades – es klang wie ein Witz, als sei er Teil einer absurden Farce à la Monty Python ), und nun wusste er, dass sich der Job zwar ganz nett anhörte, aber vor allem darin bestand, dass man warten konnte. Das konnte doch jeder! Und warum war es so? Weil das Schutzengelsein eigentlich eine Mogelpackung darstellte.
Theo erfasste, dass man nicht sonderlich viel machen konnte. Es gab gewaltige Restriktionen. Man konnte die Wirklichkeit des irdischen Lebens erfahren, selbst wenn man keinen Körper mehr hatte. Das Leben auf der Erde war erreichbar, nachvollziehbar, erkennbar. Aber es war auch unzugänglich. Es war sichtbar und hörbar, aber man konnte es nicht anfassen, es war, als sitze man im Zentrum eines kugelförmigen Kinosaals und sehe überall um sich herum Bilder, die buchstäblich alles zeigten, doch wenn man die Arme ausstreckte – Arme, die er nicht hatte, es ging nur um die Vorstellung –, griff man ins Nichts.
Gott, er hatte das Leben gierig und ungeduldig und wie besessen verschlungen. Was er mochte, hatte er in großen Mengen zu sich genommen. Aber er hatte mehr gewollt. Unendlich viel mehr. Mehr Tage der Euphorie, ja, auch mehr Tage der Langeweile, der Frustration und des Ärgers, Hauptsache, dort, bei den Menschen, die ihm fehlten und nach deren Nähe er sich sehnte. Wurde er doch tatsächlich noch zu einem sentimentalen alten Sack, Jahre nach seinem Tod! Aber wenn Jimmy loslegte, meldete sich vorübergehend der alte Theo zurück. So zum Beispiel, als Theo erfasst hatte, dass die Energie, die man als Schutzengel zum Einsatz bringen durfte, sehr begrenzt war.
»Wie überall im Kosmos«, erklärte Jimmy, »in jedem Kosmos, also auch dem unseren, dreht es sich um Energie. Bei uns natürlich nicht um die Energie, die wir von der Erde her kennen, sondern eine Energie, die wir hier Liebe nennen.«
»Jimmy, so reden sonst nur die hinterletzten Sandalenträger! Darf ich mal kurz kotzen?«, lautete Theos Reaktion darauf.
»Wenn du kotzen musst, tu dir keinen Zwang an«, erwiderte Jimmy geduldig. »Bin gespannt, ob dir das gelingt, so ganz ohne Magen.«
Theo nahm die Spitze wortlos hin.
»Liebe«, murmelte er dann. »Das ist doch auch ein evolutionäres Phänomen, oder?«
»Und deshalb weniger bedeutsam als die Urtriebe?«, fragte Jimmy. »Liebe ist alles, was du jetzt hast, mein guter Theo. Sie ist der Atem, der dir dein Bewusstsein gibt. Die Liebe anderer, nicht die Liebe, die du selbst empfindest. Denn du bist dein Leben lang ein destruktiver Narzisst gewesen. Deshalb bist du hier und nicht dort. Aber du darfst dich beweisen. Du darfst Selbstlosigkeit demonstrieren. Du darfst deine eigenen Interessen zurückstellen. Du darfst dienstbar sein. Du darfst dich aufopfern, bis nichts mehr von dir übrig ist, nicht einmal dein Bewusstsein.«
»Ihr seid ja religiöse Eiferer«, erwiderte Theo verärgert. »Lass mich bloß in Ruhe.«
Er kehrte einsam und gekränkt in sein Kasernenzimmer zurück und ging dort in stummer Wut auf und ab, auch wenn er keine Beine hatte. Dann spannte er alle Kräfte an und schaute nach seinen Eltern.
In den Niederlanden war es Nacht, und Theo sah sie schlafen, nebeneinander im Bett in all ihrer verletzlichen Unschuld, in all ihrer verzweifelten Zärtlichkeit – er streckte die Arme nach seiner Mutter aus und brüllte, dass sie ihm helfen und ihn zurückholen und ihn von seiner Wortlosigkeit und Körperlosigkeit und Herzlosigkeit erlösen solle.
Er erschrak, als sie plötzlich die Augen aufschlug und sich aufsetzte und ihn anschaute, und einen Moment lang dachte er, sie sehe ihn auch, denn sie starrte genau in die Zimmerecke, in der er sich befand, und er versuchte, ihre Aufmerksamkeit festzuhalten.
Nach einigen Sekunden schüttelte sie den Kopf, kniff die Augen zu und weinte genauso stumm wie er, und er konnte nichts tun, um sie zu trösten. Dann deckte sie seinen Vater zu, dessen Decke runtergerutscht war, strich liebevoll mit einem Finger über seine Wange und legte sich wieder neben ihn.
In sein Zimmer zurückgekehrt, das er nie verlassen hatte, trank Theo innerhalb
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