Ein gutes Herz (German Edition)
einer Stunde drei Flaschen Chivas. Als Jimmy hereinkam, waren sein Blick und sein Hirn so getrübt, dass er ihn kaum erkennen konnte.
Der Franziskaner setzte sich neben ihn und fasste ihn gleichsam bei den Händen, um ihm sein Verständnis und sein Mitgefühl auszudrücken.
»Liebe, Theo«, sagte er.
Theo schwieg, zog seine Hände zurück und zündete sich dreißig Gauloises an. Der Rauch quoll ihm aus Nase und Ohren und aus Rissen in seinem Schädel. Das war neu. Eine Zersetzungserscheinung?
Er sagte: »Hat sie mich gesehen?«
Jimmy drückte seine nicht vorhandenen Hände, in denen Theo zugleich die dreißig Zigaretten hielt. »Ja, sie hat dich gesehen.«
»Wie denn?«
»Sie hat gespürt, dass du da warst.«
»Das geht nicht.«
»Nein, das geht nicht.«
»Wie funktioniert das genau, Jimmy?«
»Ich weiß es nicht, Theo. Ich bin hier nur Aushilfskraft.«
»Sie hat direkt zu mir hingesehen. Sie wusste, wo ich war, sie sah mir in die Augen, ich schwöre es, Jim!«
»Ich glaube dir.«
»Sie hätte überallhin schauen können, aber sie schaute genau dorthin, wo ich war, und wir sahen einander, ich bin mir sicher, sie wusste, dass ich dort war.«
»Das ist sehr gut möglich, Theo.«
»Verdammt, Mann, nix da sehr gut möglich ! Ich hab gespürt, dass sie mich sah!«
»Beruhige dich, Theo, ich glaube dir ja.«
Mit einem Mal wurde Theo bewusst, dass er sich selbst etwas vorlog, weil er sich so sehr wünschte, von seiner Mutter gesehen, von ihr erkannt und berührt zu werden. Aber es war Zufall gewesen.
Jimmy schüttelte den Kopf. »Nein, Theo, es war kein Zufall. Sie hat dich erfahren. Du kannst dort deine Anwesenheit spürbar machen. Das wird dir nicht bei jedem gelingen. Aber als Schutzengel bist du jetzt in der Lage, mit Menschen, die dir nahe sind, auf die eine oder andere Weise eine Botschaft auszutauschen. Frag mich nicht, wie diese Kosmen miteinander in Verbindung stehen, ich verstehe nichts von Quantenmechanik, ich weiß nicht mal so richtig, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert, aber was ich schon weiß, ist, dass wir von hier aus mit dort kommunizieren können, zumindest, wenn wir uns ganz dafür einsetzen. Und das hast du gerade getan. Du bist jetzt Schutzengel Ersten Grades.«
Theo zuckte die Achseln. »Und wennschon. Was denkt meine Mutter, was geschehen ist?«
»Sie hat von dir geträumt. Lebensecht. Ganz nah.«
»Ich war ganz nah.«
Jimmy nickte. »Das warst du.«
»Wie funktioniert das, Jimmy?«
»Ich sagte es gerade schon, ich habe keine Ahnung. Aber ich habe eine Theorie: Wir sind da, weil andere an uns denken, von uns träumen, uns bei sich behalten.«
»Andere? Wie meinst du das?«
»Solange sie da sind und an uns denken, sind wir auch da.«
»Und wenn diese Menschen nicht mehr da sind?«
»Dann lösen wir uns auf, Theo.«
»Wir lösen uns auf? Wie denn?«
»Wie Zucker im Tee, Junge.«
»Du bist eine alte Märchentante, Jim.«
Sie sahen sich stumm an.
Theo fragte: »Was meinst du mit dem Tee?«
Jimmy erhob sich. »Dem Tee?« Er blieb einen Moment lang entspannt stehen, die Hände in den Hosentaschen, und sagte voller Überzeugung: »Das ist die Liebe im Kosmos.«
Theo schüttelte den Kopf, nach einer Handvoll Worten suchend, mit denen er Jimmys Überzeugung brechen konnte. Doch er blieb stumm. Er wusste nicht mehr so recht.
»Wir sehen mal nach Kohn«, schlug Jimmy vor.
Theo erhob sich von seinem Stuhl, soweit man davon sprechen konnte, und sah Kohn auf dem Flughafen Schiphol ankommen. Sie folgten ihm ins Amstel Hotel und hörten das Telefongespräch, das er mit Bram Moszkowicz über seine Exfreundin Sonja Verstraete führte. Kohn wollte sich mit ihr treffen und bat Moszkowicz, ein Treffen zu arrangieren. Sie blieben bei Kohn, als dieser einen Spaziergang durch die Stadt machte und danach eine Weile an einem Tisch im Hotelrestaurant saß und still vor sich hin starrte.
Dann passierte ein paar hundert Meter weiter weg etwas bei der Stopera, es gab eine fürchterliche Detonation, die den Fluss entlang am Hotel vorbeibrauste und in dessen oberstem Stockwerk Fensterscheiben zerbersten ließ.
Sie gingen nachsehen, was passiert war. Der Schmerz, den Theo dort antraf, schnitt ihm in die Seele – anders konnte man es nicht beschreiben. Die Fassade der Stopera war weitgehend weggebrochen, und Theo hörte Menschen jammern und schreien.
Dutzende waren verletzt, eingeklemmt, in Panik.
»Was können wir tun, Jimmy?«
»Den Verletzten wird von den Lebenden geholfen. Wir
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