Ein gutes Herz (German Edition)
können den Toten helfen. Sie sind verwirrt. Sie sehen uns noch nicht, das dauert eine Weile.«
»Ich war damals allein. Niemand hat sich meiner angenommen.«
»Doch, Theo. Man hat sich deiner angenommen.«
»Du?«
»Ich lebte damals noch.«
»Wer dann?«
»Da müsste ich mal nachfragen.«
Vier Tote hatten sie im Blick, doch diese bewegten sich und schauten und horchten, als hätten sie noch einen menschlichen Körper. Sie waren nicht imstande, Theo und Jimmy wahrzunehmen. Binnen weniger Minuten sickerte aber die Wahrheit in ihr Bewusstsein, und da sah Theo ihre nackte Angst, etwas Schwarzes und Widerwärtiges, das an uralte Alpträume erinnerte, mit Masken und Fratzen, und er wollte helfen und trösten, doch sie konnten seine Berührungen – mit Händen, die er nicht hatte – nicht fühlen, und sie konnten seine Stimme – die er nicht hatte – nicht hören. Er wollte trösten, er, Theo van Gogh, Schutzengel Ersten Grades, doch sie hatten solche Angst, dass sie unfähig schienen, ihn mit ihren neuen, unbekannten Augen, die keine Augen waren, wahrzunehmen. Seine Ohnmacht, kalt wie eine Polarnacht, trieb ihm die Tränen in die Augen.
15
MAX & NATHAN
Die Detonation schallte direkt zu ihm herüber, obwohl er sich nach einem späten Mittagessen im Tiefschlaf befand, einem trostbringenden Schlaf ohne heftige Bilder oder Emotionen. Binnen weniger Sekunden waren all seine Sinne hellwach, und er wusste sofort, dass das Erzittern der Hotelwände nicht von einem Erdbeben herrührte, sondern Folge einer schweren Explosion war. Er fühlte die Wände ächzen.
Der Druck der Explosion war so erheblich, dass die Fensterscheiben seines Zimmers wackelten. Max Kohn fuhr augenblicklich im Bett hoch.
Im weichen Untergrund der – de facto auf einem Sumpf erbauten – Stadt konnte sich die Druckwelle der Detonation ungehindert weiterwälzen, womöglich sogar bis hin zum Amstelbahnhof am Stadtrand. Kohn stand auf und öffnete ein Fenster.
Rechter Hand, am Ende der Amstel, wo sie einen Bogen nach links machte, um danach unter dem Rokin hindurch ins IJ zu fließen, stiegen Rauchwolken auf, die die Stopera dem Blick entzogen. Es waren dunkle Rauchwolken, aus denen ein erfahrener Feuerwehrmann schließen konnte, ob ein Brandbeschleuniger oder Sprengstoff im Spiel war.
Kohn hatte Politikwissenschaft studiert, weil ihn Macht interessierte, politische Macht, Macht, die nach Regeln und Gesetzen und nicht mittels Gewalt und Unterdrückung erworben wurde. Doch er hatte der Verlockung des Geldes nicht widerstehen können und mit dem Import von weichen Drogen ein Vermögen verdient, auf Wegen, die von Seiten derer, die mit der politischen Macht ausgestattet waren, verboten wurden. Nach wie vor.
Die absurde Duldung weicher Drogen öffnete dem Grau- und Schwarzhandel Tür und Tor. Was in die Coffeeshops gelangte, wurde als normale Ware angesehen, deren Verkauf nicht von der Justiz verfolgt wurde. Doch bevor die weichen Drogen die Schwelle eines Coffeeshops passiert hatten, waren sie in den Augen der Behörden verbotene Betäubungsmittel, für die Besitzer und Lieferant mit Gefängnis bestraft werden konnten. Reine Willkür war die Folge.
Kohn wusste nicht, wer jetzt die Hoheit über den Drogenimport hatte. Er war ja schon lange weg von hier. Er konnte allein von dem, was sein Vermögen abwarf, in Luxus leben, und falls es nicht mehr genügend abwerfen sollte, konnte er für den Rest seines Lebens vom Vermögen selbst zehren, ohne besorgt sein zu müssen, dass er sich seinen Lebensstil irgendwann nicht mehr leisten könnte. Obwohl ihn der immer weniger kümmerte. Er hatte sich im Amstel Hotel einquartiert, das immer noch eines der fünf teuersten Hotels der Stadt war. Aber im Grunde legte er keinen großen Wert mehr darauf. Er hatte das Herz eines Verstorbenen. Das war sein kostbarster Besitz – es machte ihm nichts aus, dass dieses Klischee das Einzige war, was seine Gefühlslage wiedergeben konnte.
Kohn dachte gleich an einen Sprengstoffanschlag. Eine Gasexplosion in Kombination mit einem Elektrizitätsproblem? Wer weiß? Aber eigentlich sah es nicht danach aus. Er hörte schon Sirenen näher kommen. Warum sollte irgendjemand die Stopera in die Luft jagen? Ein Terrorakt. Terroristen. Sie hatten schon in London und Madrid gewütet. Nun Amsterdam.
Selbstverständlich hatte er das Aufkommen des islamistischen Terrorismus in den Medien verfolgt. Viele erboste, hysterische Typen dort in den Ländern, wo man den Taten und Texten des
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