Ein gutes Herz (German Edition)
klar. Aber ich war auch wütend. Ich wollte nicht weg. Nicht jetzt. Und auch nicht am nächsten Tag. Auch wenn Mama jetzt wütend auf mich war, würde sie nicht ewig wütend auf mich sein. Klar, dass sie sich Sorgen machte. Sie machte sich immer Sorgen. Aber sie wusste doch, dass ich nicht blöd war! Ich konnte gut auf mich aufpassen. Ich bin nämlich schon ganz schön erwachsen für mein Alter. Ich denk echt nach.
Der Zug hielt unterwegs nirgendwo an, sondern donnerte durch Amsterdam-West und einen Bahnhof, an dem »Sloterdijk« stand, bis wir in die Innenstadt kamen. Da fuhr der Zug langsamer. Über Lautsprecher wurde durchgegeben, dass wir in wenigen Minuten die Endstation erreichten und man darauf achten sollte, kein Gepäck im Zug zurückzulassen. Ich hatte meinen Rucksack gar nicht abgesetzt. Zweihundert Euro hatte ich bei mir. Dafür konnte ich mir jede Menge Bic Macs kaufen. Und ich konnte mit Lia ins Kino gehen. Wir konnten sogar mit dem Taxi rumfahren. Echt viel Geld. Ich konnte Lia Geschenke kaufen.
Als der Zug in den Hauptbahnhof fuhr, sah ich gleich, dass da auch viel los war. Irgendwie wurde einem dabei ganz mulmig. Die Leute auf den Bahnsteigen schienen alle gleichzeitig miteinander zu reden. Es war total laut.
Auch draußen auf dem Bahnhofsvorplatz standen ganz viele Menschen. Manche starrten stumm vor sich hin. Aber die meisten redeten und telefonierten. Die Straßenbahnen fuhren nicht und waren alle leer, da saß kein einziger Mensch drin. War schon spannend, die vielen Leute, wie bei einem Popkonzert oder einem Fußballspiel. Aber normal war das nicht. Und auch ein bisschen unheimlich, genau wie in Schiphol. Ich hörte, wie die Leute sagten, dass auch die U-Bahn nicht fuhr. Ich wollte auch gar nicht mit Straßenbahn oder U-Bahn fahren. Ich wollte zu Fuß zum Dam gehen und von dort Lia anrufen, ob sie hinkam. Sie konnte ja einfach mit dem Fahrrad fahren.
In Richtung Dam liefen ganz viele Leute, manche mitten auf der Straße oder den Straßenbahnschienen. Die Straßenbahnen standen ja alle am Bahnhof, mindestens zwanzig oder dreißig Stück. Die Straße zum Dam ist ganz breit, und auf der einen Seite sind lauter Pizzerias. Auf der anderen Seite stehen viele große Gebäude, ganz am Ende ein Kaufhaus, das Bijenkorf heißt, da war ich mit Mama ein paarmal drin. Als ich auf den Dam kam, den großen Platz davor, verstand ich, wieso ich so wenig Autos gesehen hatte. Es fuhren weit und breit keine. Alle Leute waren zu Fuß unterwegs oder auf Fahrrädern und Scootern – »die sind doch meschugge«, sagte Leon immer, wenn er Jungs oder Mädchen auf Scootern sah. Ich wollte aber auch einen haben, wenn ich sechzehn war.
Die meisten Fußgänger liefen in Richtung Bahnhof, in die Gegenrichtung waren längst nicht so viele unterwegs. Ich setzte mich am Denkmal auf dem Dam auf die Stufen. Da saßen auch andere Jungen und Mädchen und auch Erwachsene. Als ich mein BlackBerry rauszog, sah ich, dass Mama sechsundfünfzigmal angerufen hatte. Typisch Mama. Die rief einfach immer wieder an. Vielleicht hatte sie auch schon die Polizei alarmiert. Leon hatte auch angerufen, achtmal. Und beide hatten sie mehrere SMS geschrieben, voller Tippfehler. Puf an! Mekde dich, puf an! Nict bose sein, Nathan, amtworte!!!! Erwachsene haben zu große Finger fürs Simsen. Aber ich wollte nicht antworten, Pech für sie. Ich wollte erst mit Lia reden.
*
Auf der Hotelterrasse, die zur Amstel hinausging, hatten sich Gäste und Personal versammelt. Dichter Rauch verhüllte die Stopera. Über dem Gebäude hatte sich eine pilzförmige Wolke gebildet. Wenn die Rauchentwicklung mal für einige Augenblicke abnahm, wurden die Schäden sichtbar. Ganze Stücke der Fassade waren weg. Ein Teil des riesigen Dachs war abgeknickt. Auf der Blauwbrug standen Polizeiwagen mit Blaulicht. Kohn stand stumm inmitten der anderen Gäste und schaute. Einige rauchten. Ein älteres Ehepaar hatte ein Glas Weißwein in der Hand, von dem es sich offenbar nicht hatte trennen können, und starrte, ohne zu trinken, regungslos zur Stopera hinüber. Die Sirenen jaulten und heulten unaufhörlich. Ein Hotelmanager erhob die Stimme und bat die Gäste hineinzugehen. Er deutete nach oben, es bestand die Gefahr, dass Scherben der zerborstenen Scheiben im obersten Stockwerk des Hotels auf die Terrasse herabfielen. In der Lobby, zwischen den Marmorsäulen, wurden Gratisgetränke angeboten. Kohn verließ das Hotel. Er ging zur Sarphatistraat und auf ihr zum Amstelufer, dem er
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