Ein gutes Omen
Athleten, und Dutzende von Lautsprechern nisteten in seinen
Zweigen. Trotzdem: Es handelte sich um einen echten Baum. Wenn man die Augen
halb schloß und über den künstlichen Wasserfall blickte, so konnte man sich mit
ein wenig Phantasie vorstellen, einen kranken Baum zu sehen, umhüllt vom
Schleier vergossener Tränen.
Jaime Hernez
nahm häufig sein Mittagessen darunter ein – obgleich er damit gegen ein
ausdrückliches Verbot seines Chefs (Abteilung Instandsetzung) verstieß. Aber
Jaime war auf einer Farm aufgewachsen, wenn auch einer recht kleinen, und er
mochte Bäume. Eigentlich hatte er auf dem Land bleiben wollen, aber schließlich
mußte er sich dem unerbittlichen Gebot der Notwendigkeit beugen und in die
Stadt ziehen. Der Job war nicht schlecht, und Hernez verdiente recht gut – mehr
Geld, als sich sein Vater erträumt hätte. Sein Großvater hatte überhaupt nicht
von Geld geträumt. Er hatte bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr gar nicht
gewußt, was Geld war. Aber es gab Zeiten, da brauchte man Bäume, und das
schlimmste war, so dachte Jaime, daß seine Kinder größer wurden und in Bäumen
nur Feuerholz sahen, und daß für seine Enkel Bäume nur noch etwas waren, das
der Vergangenheit angehörte. Doch was konnte man dagegen unternehmen? Wo es
früher Bäume gegeben hatte, gab es nur noch unüberschaubares Farmland. Wo
früher kleine Farmen gewesen waren, standen jetzt Einkaufszentren; und wo
früher Einkaufszentren gestanden hatten, waren jetzt immer noch welche. So lief
der Hase nun mal.
Jaime schob den
Rollwagen mit den Werkzeugen hinter einen nahen Zeitungsstand, sah sich
mehrmals um, nahm Platz und öffnete sein Lunchpaket.
Einige Sekunden
später hörte Jaime ein leises Rascheln, und aus den Augenwinkeln nahm er
Schatten wahr, die über den Boden krochen.
Der Baum
bewegte sich. Hernez hielt interessiert Ausschau. Er hatte noch nie einen Baum
gesehen, der sich bewegte.
Der Boden, der
aus nichts weiter als einer Aufschüttung irgendwelcher Plastikchips bestand,
bewegte sich tatsächlich, als sich die Baumwurzeln unter der Oberfläche hoben.
Jaime beobachtete einen dünnen weißen Trieb, der an der steinernen Einfassung
herabglitt und blindlings über die Betonplatten tastete.
Hernez handelte
rein instinktiv, ohne sich jemals nach dem Grund zu fragen. Er streckte das
Bein, schob den Trieb vorsichtig zur Seite, bis er einen dünnen Spalt erreichte.
Die junge Wurzel zögerte nicht, bohrte sich sofort hinein.
Die Zweige
veränderten ihre Form.
Außerhalb des
Gebäudes brummte der übliche Verkehrslärm, aber Jaime achtete nicht darauf. Wie
aus weiter Ferne hörte er das Quietschen von Bremsen und Reifen. Jemand schrie,
aber auch das weckte den Wartungstechniker nicht aus seiner faszinierten
Trance. Es geschah häufig, daß irgendwelche Leute in seiner Nähe schrien, und
meistens wandten sich die Stimmen direkt an ihn.
Der weiße Trieb
fand das tief unter Beton und Kunststoff verborgene Erdreich. Er wechselte die
Farbe und wurde dicker, wie ein Feuerwehrschlauch, der plötzlich unter Druck
gesetzt wird. Das Plätschern des künstlichen Wasserfalls verstummte. Jaime
stellte sich geborstene Rohrleitungen vor, an denen durstige Wurzeln saugten.
Er drehte den
Kopf und sah durch die breiten Fensterflächen nach draußen. Der Asphalt wogte, wie die Oberfläche eines sturmgepeitschten
Meeres. Weitere Triebe wuchsen aus den Rissen.
Nun, dort
draußen mangelte es nicht an richtigem Sonnenschein. Der Baum hingegen bekam
nur mattes graues Licht, kühl und steril. Totes Licht. Doch was konnte man dagegen tun?
Das konnte man
tun:
Die Lifte
funktionierten nicht mehr, weil der Strom ausgefallen war, aber eine Treppe
führte zu dem gläsernen Dach, das sich vier Stockwerke über dem Erdgeschoß
wölbte. Jaime verschloß das Lunchpaket und ging zu seinem Werkzeugwagen, wo er
sich den größten Besen nahm.
Kunden und
Angestellte verließen das Einkaufszentrum. Dutzende von Stimmen drehten die
Lautstärke voll auf. Hernez bahnte sich in aller Seelenruhe einen Weg entgegen
dem Strom, wie ein Lachs, der stromaufwärts schwimmt.
Die Kuppel aus
getöntem Glas wurde von einem Gerüst aus weißen Streben gestützt, das der
Architekt vermutlich aus dynamisch-ästhetischen Gründen hinzugefügt hatte. Es
bestand ebenfalls aus Polyäthylen, und diesmal war Jaime dankbar dafür – Stahl
war meistens sehr hart und ließ sich nur in den seltensten Fällen von
Besenstielen beeindrucken. Der Wartungstechniker
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